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Müssen wir uns damit arrangieren, dass die Kindheit als eigene,
geschützte und schützenswerte Zeit zu Ende gehen wird? Wir lesen
täglich Berichte über die Zunahme emotional gestörter und sozial
auffälliger Kinder, über Gewalt unter Kindern. Und wir hören
Expertenberichte über den besorgniserregenden körperlichen Zustand
unserer Kinder: Ãœbergewicht bei mehr als 20 Prozent aller Kinder,
Diabetes, Haltungsschäden, schlecht ausgeprägte Fein- und
Grobmotorik. Viele Kinder bedürfen umfangreicher Bewegungsförderung
bereits in der ersten Klasse. Immer mehr Kinder leiden unter
körperlichen Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, unter
Schlafstörungen und Sprachentwicklungsstörungen. Kinder werden immer
früher und immer häufiger mit Psychopharmaka versorgt.
Kindheit heute: Problematisch bis unsichtbar
Dabei sind Kinder immer noch Kinder: neugierig,
entdeckungsfreudig, fröhlich, mutig, lebhaft und voller Fantasie -
wenn sie unter kindgerechten Bedingungen aufwachsen. Leider sieht die
Wirklichkeit vieler Kinder heute anders aus: Erwachsene und Kinder
gleichen sich vom Habitus einander immer mehr an. Die Kinder tragen
die gleiche Art von Hosen, gehen in den gleichen Sportverein und -
als neuer Trend - absolvieren das gleiche Wellness-Programm wie ihre
Eltern. Kleine Mädchen werden wie Lolitas gekleidet und in der
Werbung unmissverständlich als Sexualobjekte präsentiert, kleine
Jungs werden für Sportlerkarrieren trainiert. Wer nicht in das
standardisierte Erwachsenenkonzept passt, dem werden Probleme und
Störungen unterstellt und in Richtung Norm therapiert.
Gleichzeitig werden Kinder über die Medien mit allem
konfrontiert, was Erwachsene tun, noch dazu in verzerrter Weise.
Neben allen Formen von Trivialitäten sind Gewalt und Sexualität
Hauptthema. Sendungen, die eigentlich für Erwachsene bestimmt sind,
dürfen Kinder trotzdem häufig sehen. Daneben sind Kinder auch sehr
gewieft darin, am Computer sowohl Pornos als auch Gewaltvideos über
Youtube oder über andere Wege zu finden - natürlich ohne das Wissen
ihrer Eltern. Das sind die Mutproben von heute: Wer hält den
schlimmsten Film aus? Die Welt schrumpft im Fernsehen zur Soap Opera.
Die Konfrontation mit dem Weltgeschehen durch das Fernsehen, mit
Krieg und Gräuel, tut das Ihrige, die Kinder zu verwirren und
Besorgnis bei ihnen auszulösen.
Umgekehrt ist Kindheit heute im Alltag fast unsichtbar: Spielende
Kinder unter sich sind von den Straßen und Plätzen unserer Städte
verschwunden. Diese pädagogikfreie Zone, in der Kinder dem Blick- und
Kontrollfeld der Eltern entkommen können, ist in den letzten 20
Jahren fast vollständig aufgegeben worden. Es bleibt kein Raum mehr
für Kindheit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, für Orte, die Kinder auf
eigene Faust entdecken können. Stattdessen: eingezäunte
Spielplatzruinen, Disco für Kindergartenkinder, intellektuelle
Lernprogramme für Kleinkinder, verplante Zeit schon im Krabbelalter.
Erwachsene dringen dabei immer weiter in das Kinderleben vor. Kinder
sind seltener unter sich, fast immer sind Eltern, Erzieher, Lehrer,
Freizeitpädagogen oder Trainer anwesend.
Intellektuelle Frühförderung als zusätzlicher Druck
Von Kindern wird frühe Wissensaneignung gefordert. Insbesondere in
den letzten Jahren ist die Angst groß, Kinder könnten in dieser
Hinsicht etwas versäumen. Wenn überhaupt noch Zeit zum Spielen
bleibt, wird auf strukturierte Spiele im Sinne von Lern- und
Gesellschaftsspielen gesetzt, die im Sitzen absolviert werden können.
Selbst in den Kindergärten trifft man Kinder häufig vorwiegend
sitzend an. Und am Nachmittag fehlt der Freiraum für das freie Spiel:
Die Zeit ist verplant mit Förderprogrammen und Freizeitangeboten.
Durch ein Ãœberangebot an Dingen, die Kinder zu passiven Konsumenten
machen, wird die Eigeninitiative der Kinder unterdrückt.
Förderung von Kindern kann aber, vor allem vor der Schulzeit,
keine intellektuelle Förderung im eigentlichen Sinne sein. Kinder
müssen sich erst eine körperliche, emotionale, soziale und geistige
Grundausstattung aneignen, um gerüstet zu sein für die Anforderungen,
die an sie in der Schule gestellt werden. Wenn wir nicht nur den
denkenden Menschen im Blick haben, sondern auch den Menschen, der
sozial kompetent, eigenverantwortlich und mitfühlend handeln soll,
reicht eine intellektuell anregende Umgebung für den sich zu
entwickelnden Menschen nicht aus. Kinder müssen eigeninitiativ auf
Entdeckungsreise gehen, um sich zu selbstständigen, selbstbewussten,
kreativen und sozialfähigen Menschen entwickeln zu können.
Eigene Erfahrungen prägen für's Leben
Für ihre gesunde Entwicklung müssen Kinder Kohärenz entwickeln.
Heißt: Sie sollten die Welt als bedeutsam und sinnhaft, als "gut"
erleben. Außerdem bedeutet es, dass Kinder ein Gefühl dafür
entwickeln sollten, dass sie Einfluss auf die Welt nehmen können und
dass sie die Welt - auf ihre Weise - als verstehbar erleben. Durch
Kohärenzerfahrungen entsteht die Fähigkeit, Probleme meistern zu
können, Mut zu entwickeln und Lebenssicherheit zu erlangen. Diese
Faktoren sind grundsätzlich beim Kind angelegt, können aber durch
schlechte Bedingungen erheblich gestört werden. Es ist wichtig, dass
Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich Hilfe zu holen,
wenn es erforderlich ist. Sie brauchen soziale Kompetenz. Sie
entsteht durch eine positive soziale Orientierung, durch das Erleben
von Zusammengehörigkeitsgefühl und durch die Fähigkeit, schwierige
Situationen auszuhalten und Lösungen zu finden. Gute, warmherzige
Bindungen und ein stabiles Netz aus Freunden sind zur Entwicklung
dieser Qualitäten wesentlich. Dass dirigistische Erwachsene,
übermäßige Kontrolle und wenig Möglichkeiten, Eigeninitiative zu
entwickeln, dem entgegenstehen, versteht sich von selbst. Kinder
müssen den Spielraum zur Verfügung haben, den sie benötigen, um ihre
Fähigkeiten entdecken und entwickeln zu können - und um seelisch
gesund und glücklich aufwachsen zu können. Dazu brauchen sie
Erwachsene, die nur dann Hilfestellung geben, wenn es wirklich nötig
ist, die nicht überbehüten und die Vertrauen in Kinder und deren
Fähigkeiten haben. Kinder brauchen Erwachsene, die Kinder Kinder sein
lassen können.
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