(ots) - Münkler: Zum Mauerfall führte eher der Wunsch
nach Wohlstand als fehlende Freiheit
Wissenschaftler sieht "verheerende Wirkung" politischer
Entscheidungen nach der Wende - Aber innere Einheit im Kern gelungen
Osnabrück.- Mit unbequemen Analysen blickt der Politologe Herfried
Münkler auf den 25. Jahrestag des Mauerfalls. In einem Interview mit
der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstag) wies der Erfolgsautor ("Der
Große Krieg", "Die Deutschen und ihre Mythen") jetzt darauf hin, dass
die Wende eher auf dem Streben nach Wohlstand als nach Freiheit
beruhte. "Zum Zusammenbruch des Regimes der DDR hat geführt, dass das
Freiheitsbegehren einer kleinen, fast avantgardistisch agierenden
Gruppe und das Wohlstandsbegehren einer großen Mehrheit
zusammengekommen sind", sagte der Professor der Berliner
Humboldt-Universität. "Aus der Sicht der herrschenden Eliten hat das
Wohlstandsbegehren womöglich den größeren Druck entfaltet. Das
Freiheitsbegehren wäre noch zu unterdrücken gewesen, aber die
Eigenständigkeit der DDR wäre nur aufrecht zu halten gewesen, wenn
das Regime der DDR den Wohlstand der Bevölkerung um 20 bis 30 Prozent
gesenkt hätte. Das war einfach nicht durchzusetzen."
Münkler führte aus, dass viele Ostdeutsche "durch vierzig Jahre
DDR und davor noch einmal zwölf Jahre Nationalsozialismus entwöhnt
worden sind, Initiative und Verantwortung zu entwickeln". Dieser
Effekt wirke bis heute, wenn er auch nachlasse. Eine weitere soziale
Folge zeige sich durch die Abwanderung. Vor allem besser gebildete
Frauen seien wegen beruflicher Perspektiven in den Westen gezogen.
"Es ist eine andere Frage, ob sie im Süden und Südwesten Deutschlands
glücklich geworden sind. In der Regel haben Sie dort nicht geheiratet
und keine Kinder bekommen", hat Münkler beobachtet. Im Nordosten
seien derweil "frustrierte junge Männer zurückgeblieben, die eine
starke Neigung nach Rechts haben, teilweise zu fremdenfeindlichen und
rassistischen Gruppierungen. Bei diesen Männern muss nicht von
vornherein rechtsradikales Gedankengut vorhanden gewesen sein. Aber
sie fühlen sich zurückgelassen und alleingelassen. Das ist auch nicht
mehr reparabel", führte der Spezialist für politische Ideengeschichte
aus.
Gleichwohl ist die innere Einheit Deutschlands für Münkler
weitgehend gegeben. Das relativ geringe politische Interesse sieht er
als nicht dramatisch an: "Die Wahlbeteiligung in den neuen
Bundesländern liegt höher als in den USA." Und wenn der Umtauschkurs
zwischen der Mark der DDR und der D-Mark wegen seiner Höhe auch zu
einer folgenschweren Deindustrialisierung des Ostens geführt habe,
sei "schwer zu sagen, wie das anders hätte organisiert werden können,
ohne eine Völkerwanderung Richtung Westen auszulösen". Inzwischen
hätten sich viele politische Maßnahmen nach der Wende als richtig
herausgestellt. "Die unmittelbare Wirkung auf das Leben der Menschen
war allerdings verheerend", schloss Münkler.
Münkler: Deutschland ist neue Zentralmacht Europas
"Politische Geografie hat sich verändert" - Humboldt-Professor
fordert Verständnis für Russland
Osnabrück.- Der Politologe und Erfolgsautor Herfried Münkler ("Der
Große Krieg", "Die Deutschen und ihre Mythen") hat zu mehr
Verständnis für die gegenwärtige russischen Politik aufgerufen. In
einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstag)
erklärte der Wissenschaftler mit Blick auf den 100. Jahrestag des
Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in diesem Jahr, "wenn wir uns daran
erinnern, dass die Wiener Politik 1914 durch Niedergangsängste und
die Berliner Politik durch Einkreisungsängste geprägt war und dass
das zu heiklen Reaktionen geführt hat, dann müssten wir in der Lage
sein zu begreifen, dass auch die russische Politik heute durch
Niedergangs- und Einkreisungsängste geprägt ist." Vor diesem
Hintergrund "können wir vielleicht ein wenig geschickter und
flexibler gegenüber Putin und der politischen und militärischen Elite
in Russland reagieren", sagte der Professor der Berliner
Humboldt-Universität.
Der Spezialist für politische Ideengeschichte rechnet mit einer
weiter erstarkenden Rolle der Bundesrepublik: "Die Deutschen sind mit
ihrer zentralen Lage in der Mitte Europas politisch gefordert."
Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier
und Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin hätten diesen
Rollenwandel in diesem Frühjahr bei der Münchener Sicherheitspolitik
lanciert. "Dieses Thema wird die deutsche Politik in den nächsten
Jahren stark beschäftigen", sagte Münkler voraus. "Mit der Eurokrise
ist sichtbar geworden, welch ungeheures Gewicht und damit welch große
politische Macht Deutschland in der Mitte Europas hat." Dadurch habe
sich die politische Geografie verändert. "Heute hat Deutschland die
Aufgabe, das verfasste Europa zusammenzuhalten und zu verhindern,
dass Nord- und Südeuropa auseinanderdriften. Die neue Aufgabe der
Bundesrepublik ist die Integration. Damit ist Deutschland die neue
Zentralmacht Europas."
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