(ots) -
DER FRÃœHERE CHEF DER KANZLERIN PACKT AUS:
...seine Gitarre und Erinnerungen
Ein musikalisch literarischer Beitrag zur DDR Vergangenheit und
zur aktuellen Diskussion
Matthias Gehler kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Als
Sprecher der letzten DDR Regierung unter Lothar de Maiziere hat er
deutsch-deutsche Geschichte geschrieben. Gehlers Stellvertreterin war
damals Angela Merkel. Jetzt schreibt er über seine Zeit vor der Wende
als Pfarrer, Journalist und Liedermacher - mit einem Vorwort der
Bundeskanzlerin.
Vor knapp 25 Jahren hat Matthias Gehler, heute MDR Chefredakteur
in Thüringen, seine Gitarre in die Ecke gestellt. Einer der letzten
großen Auftritte war 1990 zur Eröffnung des
Schleswig-Holstein-Festivals bei Justus Frantz. Gehler hat seinen
alten Koffer noch einmal geöffnet und ist auf erstaunlich aktuelles
Material gestoßen.
"Wenn Gedanken Flügel hätten" ist eine Sammlung von Lebensliedern
und den dazu gehörenden Geschichten. Einen Teil seiner Lieder hat
Gehler auf CD neu aufgenommen. Entstanden ist ein lebendiges Stück
Zeitgeschichte ohne Nostalgie. Die Texte sind zeitlos und haben
nichts von ihrer Aktualität verloren.
"Ich denke gerne an die Zeit zurück, als Matthias Gehler und ich
Kollegen waren und in einer intensiven Zeit des Umbruchs und der
Veränderung versucht haben, Journalisten aus der Bundesrepublik, aber
auch ausländischen Journalisten zu erläutern, was gerade passierte."
(Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin)
MATTHIAS GEHLER "Wenn Gedanken Flügel hätten"
erschienen bei WILD media
ISBN: 978-3-9816684-0-7 (Buch EUR14,95)
EAN: 4020796454456 (CD EUR14,95)
ISBN: 978-3-9816684-2-1 (Buch mit CD EUR25,00)
ISBN: 978-3-9816684-1-4 (ebook) - Ende November erhältlich
Musik-Download auf den einschlägigen Portalen
(Amazon, iTunes, etc.)
Leseprobe:
Mein 9. November
Fast jeder Deutsche meiner Generation hat seinen 9. November. Man
braucht das Datum nur zu nennen und schon erzählt jeder seine ganz
persönliche Geschichte. Meine geht so: Ich sitze auf einer
Kirchenbank in der Französischen Friedrichstadtkirche in
Berlin-Mitte. Bürgerrechtsbewegungen und Parteien wollen ihre
Zukunftsmodelle vorstellen. Es geht um Veränderungen im
"sozialistischen System". So steht es auf einer der Einladungen.
Keiner der Redner, weder Rainer Eppelmann noch Manfred Stolpe oder
Lothar de Maiziére hat die Abschaffung des Sozialismus im Sinn. Auch
von Wiedervereinigung ist nicht die Rede. Solche Gedanken sind noch
weit weg. Wir stecken viel zu sehr in den Problemen, die 1989 endlich
öffentlich diskutiert werden. Das macht diesen Abend so spannend,
obwohl hier keine umsetzbaren Beschlüsse zu erwarten sind. Ich sitze
als Journalist und Privatperson in der Kirchenbank und lausche den
teils sehr utopischen Entwürfen für eine neue Gesellschaftsordnung.
Der offene Dialog ist das Neue. Das sind Artikulierungsversuche von
Menschen, die entweder in zwei Diktaturen ein doppeltes Denken und
Sprechen entwickelt haben oder die zumindest das Amtsdeutsch der DDR
überwinden müssen. Das große Schweigen ist gebrochen.
Der sogenannte Dialog hat das ganze Land erfasst. Ein Forum jagt
inzwischen das andere. Es gibt Leute, die früher schweigsam dem
System gedient haben und sich nun in den Dialog einschalten. Das sind
die Schlauen, die noch rechtzeitig auf den Zug aufspringen wollen,
der sich in Bewegung gesetzt hat. Dann sind da die Schriftsteller,
Genossen und Funktionsträger, die jetzt auf gut gefüllten Plätzen zum
Volk reden, als hätten sie schon immer zu ihm gehört. Sie betonen,
wie wichtig der Dialog sei, haben ihn aber vierzig Jahre nicht
zugelassen. Mich stört diese Heuchelei. Ich habe ihr ein Gedicht
gewidmet: "Mich trog, der Dialog log." Heute Abend, hier in der
Friedrichstadtkirche, habe ich keinen Nerv für Geschichte. Ich denke
nicht an die Pogromnacht 1938 oder etwaige Parallelen zum 09.
November 1918, an dem wenige Meter entfernt eine demokratische und
sozialistische Republik ausgerufen wurde. Damals war den Deutschen
doch eher nach Kompromissen zumute als nach endgültiger Erneuerung.
Irgendwer redet jetzt von der Grenzöffnung und von
Reiseerleichterungen. Alle bleiben auf ihren Bänken sitzen. Die
Veranstaltung läuft weiter. Am Schluss unterhalte ich mich noch mit
einigen Bekannten. Schließlich verabschieden wir uns und ich begebe
mich auf den Weg nach Hause. Ich steige in meinen Wartburg und fahre
die Karl-Liebknecht-Straße entlang, die Karl-Marx-Allee hinauf
Richtung Frankfurter Allee und biege dann in meinen Kiez ab.
Meine Freundin schläft. Leise schalte ich den Fernseher ein. In
der ARD berichten sie über einen offenen Grenzübergang in der
Bornholmer Straße. Ich warte einen Augenblick und wecke sie. Es
kostet Ãœberzeugungsarbeit, bevor wir runtergehen. In der
Schreinerstraße ist es ruhig. Trotzdem steigen wir in den Wagen und
fahren los. Auf der Frankfurter reihen wir uns ein in einen Strom von
Autos, die auf drei Spuren ins Stadtzentrum rasen.
Noch während der Fahrt suchen wir unsere blauen Personalausweise.
Meinen lege ich griffbereit auf das Armaturenbrett.
Wir nähern uns der Bornholmer Straße. Die Fahrgeschwindigkeit der
Kolonne verringert sich. Jetzt geht es nur noch im Schritttempo
voran. Rechts und links stehen Autos. Alle Parkverbote scheinen
aufgehoben. Viele ziehen zu Fuß an uns vorbei - alle in eine Richtung
und mit nur einem Ziel. Ich finde eine Parklücke. Wir steigen aus und
laufen in Richtung Westen. Menschen schieben sich dicht an dicht
vorbei an Wachhäuschen und Grenzern, die nichts mehr kontrollieren.
Jeder redet mit jedem und keiner weiß eigentlich, was geschehen ist.
Die Grenze ist offen. Plötzlich stehen wir auf Westberliner Boden. Es
ist ein überwältigendes Gefühl. Wenige Schritte und wir sind in einer
anderen Welt - keine Bürokratie, keine Wartezeiten, keine Kontrollen
und so viele Menschen, die das Gleiche empfinden.
Ein Ruck durchfährt mich. Ich habe den Personalausweis vergessen.
Er liegt noch im Auto. Ich bin ein Nichts. Wie komme ich zurück?
Lassen die mich wieder rein? Alle möglichen Gerüchte schwirren durch
die Menge. Die Angst wird verdrängt von Freude und von dem Anblick
eines jungen Kerls, der ganz alleine steht und heult. Wir kennen ihn.
Er ist ein Gitarrenschüler von mir. Wir fallen uns in die Arme,
klopfen uns auf die Schulter. Er schließt sich uns an, obwohl wir
noch nicht wissen, wohin.
Alle laufen weiter. Da stehen Busse, vor denen uns ein Mann
freundlich einweist und sagt: "Man, ihr seid ja heute schon gekommen.
Wir dachten immer, ihr kommt erst zu Weihnachten." Alle lachen. Wir
steigen ein.
Die gelben Doppelstocker riechen innen nach Westen und außen nach
Edeldiesel - komplett anders als unsere Ikarus-Busse. Wir stehen
wieder dicht an dicht. Jeder strahlt und es ist irgendwie doch schon
wie Weihnachten, kurz vor der Bescherung. Leider transportieren uns
die Busse nur bis zur nächsten U-Bahn-Station. Dort warten wir wieder
auf einem, bis zum Rand gefüllten Bahnsteig. Bahn für Bahn fährt
Richtung Zentrum. Schon mit dem zweiten Zug schaffen wir es
mitzukommen. Alles scheint wie eingeprobt, organisiert und
durchdacht. Das ist der goldene Westen, wie wir ihn uns immer
vorgestellt haben.
Unterwegs werden Witze gerissen: "Ich hab vorhin auf dem Bahnsteig
Honecker gesehen." - "Was ist, wenn die Bahn uns jetzt zurück in den
Osten bringt?" - "Ich muss zurück, ich hab vergessen mein Bügeleisen
auszumachen." Die Stimmung ist prächtig und angespannt wie vor einer
Weltreise. Dabei sind und bleiben wir nur in Berlin. Wir steigen mit
dem Menschenstrom aus und stehen wenige Minuten später auf dem
Ku'damm.
Alles ist auf den Beinen. Autokorsos schlängeln sich hupend durch
die Straßen. Wir reden mit wildfremden Menschen wie mit engen
Freunden. Wir trinken etwas, ohne zu bezahlen, halten noch in der
Nacht eine Zeitung mit der Maueröffnung als Schlagzeile in der Hand.
Ein voll beladenes Taxi bringt uns morgens zurück an die Grenze. Wir
diskutieren mit dem Fahrer über die ersten Versuche einiger
Übermütiger, die der Mauer mit Hammer und Meißel zu Leibe rücken.
Unser Respekt vor der Grenze sitzt tief. Ich bin etwas beunruhigt, ob
sie mich wieder reinlassen. Die Sorge ist unbegründet. Kein Grenzer
will irgendwelche Papiere sehen.
Nichts ist mehr wie früher. Es gibt in den nächsten Wochen und
Monaten eine Reisewelle von Ost nach West. Wir sind neugierig auf das
andere Deutschland. Gegenbesuche sind zumeist geschäftlicher oder
politischer Natur. Der Osten ist in Bewegung geraten. Wir lernen in
Freiheit zu leben und werden flexibel. Viele ostdeutsche
Kulturauftritte werden abgesagt, weil keiner mehr kommt. Die Leute
sind jetzt im Westen. Zu Recht. Wir waren viel zu lange isoliert.
Auch meine Konzerte sind nur noch halb so gut besucht. Ich sitze
schon wenige Tage nach der Grenzöffnung in der Berliner Studiobühne
vor einem treuen Rest von Fans und bedanke mich mit der Liedzeile:
"Und ich dank Dir, denn ich glaub, auch Dein offenes Ohr brachte uns
schließlich ein offenes Tor."
Lebensdaten
Matthias Gehler (Jahrgang 1954) wurde in Crimmitschau geboren. Er
studierte Theologie, Psychologie und Kommunikation, war ab 1980 im
kirchlichen Dienst tätig und ab 1987 als Redakteur im Verlag "Neue
Zeit". Nebenbei gab er als freischaffender Liedermacher ca. 50
Konzerte im Jahr. 1990 holte ihn Lothar de Maizière als
Staatssekretär und Regierungssprecher in das Kabinett der ersten frei
gewählten DDR Regierung. Seine Stellvertreterin war damals Angela
Merkel. Nach der Wiedervereinigung beriet er das Bundespresseamt.
1991 gehörte er zum Beraterstab des Rundfunkbeauftragten für die
neuen Bundesländer und war maßgeblich an der Neuordnung des
öffentlichrechtlichen Rundfunks in den neuen Ländern beteiligt. Seit
November 1991 arbeitet Matthias Gehler beim Mitteldeutschen Rundfunk.
Er ist Chefredakteur der Radio-, Fernseh- und Online- Programme des
MDR in Thüringen. Gehler hat in verschiedenen Fachgebieten
veröffentlicht und Lehraufträge, u. a. an der Universität Erfurt.
Matthias Gehler ist verheiratet und hat 3 Kinder.
Kontakt/Rezensions-Exemplar/Interview-Anfragen:
WILD media - Willi Wild
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