(ots) -
Bolivien hat als erstes Land die Arbeit von Minderjährigen
gesetzlich geregelt. Der Anspruch auf schulische Bildung gehört dazu.
El Alto, Bolivien - Henry Apaza hat schon drei verschiedene Jobs
hinter sich. Sein erster Arbeitsplatz war ein Bus: Er stand in der
immer offenen Tür, rief die Endstation aus und ermunterte Leute am
Straßenrand, auch dann noch einzusteigen, wenn der Bus schon brechend
voll war. Danach hat er als Schuhputzer gearbeitet, dann auf dem Bau.
Heute verkauft der schmale 13-jährige Junge mit der tief in die Augen
hängenden pechschwarzen Pony-Frisur Zigaretten auf den Straßen von El
Alto, der über 4000 Meter hoch gelegenen Zwillingsstadt des
bolivianischen Regierungssitzes La Paz.
"Von zehn Leuten, die du hier beim Arbeiten auf der Straße
triffst, sind drei oder vier noch Kinder", sagt er. Ein paar tausend
von ihnen sind organisiert, in Unatsbo, der bolivianischen
Gewerkschaft für arbeitende Kinder und Jugendliche. Das Jahr 2014 ist
für sie das Jahr ihres größten Erfolgs: Das Parlament hat im Juli ein
Gesetz verabschiedet, nach dem Kinderarbeit - wenn sie gewisse
Mindeststandards erfüllt - legal ist. Dafür haben sie protestiert und
demonstriert und schließlich mit dem Präsidenten des Landes
verhandelt. Henry Apaza ist Gewerkschafter und war dabei, als
zweihundert von ihnen in den Regierungspalast eingeladen wurden.
International ist dieses Kinderarbeitsgesetz umstritten. Unicef,
das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, ist genauso besorgt wie
die internationale Arbeitsorganisation (ILO). Beide treten für ein
Mindestarbeitsalter von 15 Jahren ein, das neue bolivianische Recht
sieht vor, dass Kinder schon ab zehn Jahren arbeiten dürfen. Henry
war bei seinem ersten Job acht Jahre alt und findet das völlig
normal. "Wie kann ich gegen Kinderarbeit sein, wenn ich selbst davon
lebe und meine drei Schwestern auch?" fragt er.
Nicht einmal die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen,
die von der UN-Generalversammlung am 20. November vor 25 Jahren
angenommen wurde, verbietet die Arbeit von Kindern. Sie verlangt
Schutz vor Ausbeutung und vor Arbeiten, die der Entwicklung und der
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schadet, und es sind genau
solche Arbeiten, die man sich beim Thema Kinderarbeit vorstellt:
Kinder, die an Webstühle gefesselt sind und Teppiche knüpfen oder die
Steine klopfen für Grabplatten in Europa.
Das gibt es. Aber sechzig Prozent der 168 Millionen Kinder, die
laut ILO-Statistik weltweit arbeiten, tun das in der Landwirtschaft
an der Seite ihrer Eltern. Gleich dahinter kommen informelle
Dienstleistungen, also Arbeiten auf Märkten, als Straßenverkäufer
oder im Haushalt. Weniger als fünf Prozent arbeiten in der
Exportindustrie, also in Textilfabriken oder eben als Teppichknüpfer
und Steineklopfer.
Das eigentliche Problem ist die Armut. Wenn die Löhne extrem
niedrig sind, sind Kinder gezwungen, zum Familieneinkommen
beizutragen. "Umgekehrt ist Kinderarbeit auch eine Ursache für Armut.
Wenn Kinder nicht in die Schule gehen und keine Ausbildung erhalten,
werden sie später kaum in der Lage sein, sich und ihre Familie
ausreichend zu ernähren. Ihre Chancen sind ungleich schlechter
gegenüber ausgebildeten Kindern und Jugendlichen", erklärt Ulla
Sensburg, Vorständin der SOS-Kinderdörfer weltweit. Diesen
Teufelskreis gilt es zu durchbrechen.
Die Hilfsorganisation setzt unter anderem auf Bildungsangebote, um
Armut und Kinderarbeit zu verhindern. Elternlose und verlassene
Kinder bekommen in den an die SOS-Dörfer angeschlossenen
Einrichtungen eine Schul- und Berufsbildung. Arme Familien, die
häufig in Slums oder heruntergekommen Vorstadtsiedlungen großer
Städte leben, werden durch Familienhilfe unterstützt. Prävention ist
hierbei das Stichwort. Eltern und Kinder werden gefördert, bevor die
Familie auseinanderbrechen kann.
Bolivien ist das ärmste Land in Südamerika. "Wenn die Kinder es
aussuchen könnten, würden sie alle nicht arbeiten, sondern spielen",
sagt der Parlamentsabgeordnete Javier Zavaleta von der bolivianischen
Regierungspartei MAS. Zwar gibt es Programme zur Bekämpfung der
Arbeit, aber die greifen viel zu langsam. Eben deshalb sei es nötig,
Kinderarbeit "vorübergehend" zu regulieren. "Alles andere wäre Betrug
an den Kindern." Denn wer keine Rechte hat, der kann sie auch nicht
in Anspruch nehmen.
Nach dem neuen Gesetz dürfen Kinder zwar mit dem Einverständnis
der Eltern und eines staatlichen Ombudsmanns ab zehn Jahren arbeiten
und ab zwölf angestellt werden, es muss ihnen aber genügend Zeit
bleiben, um die Schule zu besuchen. 21 Tätigkeiten sind für sie
weiterhin verboten. Sie dürfen zum Beispiel nicht in Minen arbeiten -
was heute noch vorkommt -, nicht auf Zuckerrohrplantagen und auch
nicht in Nachtclubs.
Für ihre Kollegen in anderen Ländern sind die kleinen
bolivianischen Kollegen leuchtendes Vorbild. Kindergewerkschaften
gibt es auch in Peru, Brasilien und Nicaragua, in Indien und in
vielen westafrikanischen Ländern. Aber nur in Bolivien gibt es
bislang ein Gesetz, das arbeitenden Kindern das Recht zusichert,
trotzdem in die Schule zu gehen. Präsident Evo Morales, der mit 200
Kindergewerkschaftern über das Gesetz diskutiert hat, weiß, was das
bedeutet. Er stammt selbst aus bitterarmen Verhältnissen und hat nach
sechs Jahren die Schule abgebrochen. Er hat als Kind Lamas gehütet
und Eis auf der Straße verkauft und als Jugendlicher in einer
Bäckerei und einer Ziegelei gearbeitet. Henry Apaza, der kleine
Gewerkschafter aus El Alto, geht in die siebte Klasse. Er besucht
eine Schule, die Abendkurse anbietet, und ist einer der besten seines
Jahrgangs.
Mehr Infos
unter:www.sos-kinderdoerfer.de/aktuelles/themen/kinderarbeit
Pressekontakt:
18.11.2014
Weitere Informationen:
Louay Yassin
Pressesprecher
SOS-Kinderdörfer weltweit
Tel.: 089/179 14-259
E-Mail: louay.yassin(at)sos-kd.org
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