Fluggäste haben Ansprüche gegen Fluggesellschaften aus der Annullierung, Überbuchung, Umbuchung oder Verspätung von Flügen. Fluggäste müssen die theoretisch bestehenden Ansprüche jedoch praktisch durchsetzen. Zur Durchsetzung stellt sich die Frage, welches Gericht für die Durchsetzung der Ansprüche zuständig ist? Wo ist der Gerichtsstand? Zugleich eine Besprechung des EuGH-Urteils vom 09.07.2009 (Rs. C-204/08, Peter Rehder gegen Air Baltic Co.). von Jan Bartholl (Rechtsanwalt für Reiserecht und Luftverkehrsrecht)
(firmenpresse) - ME 2009 (Kö) Der intensive Wettbewerb auf dem Markt der Flugbeförderungen und das schwache Marktumfeld erhöhen zur Zeit den (Kosten-)druck auf Fluggesellschaften. Auf Grund reduzierter Flugfrequenzen werden schlecht ausgelastete Strecken gestrichen, Flugzeuge stillgelegt und der Flottenpark verkleinert. Daher kommt es immer häufiger vor, dass Flüge zusammengelegt, gestrichen oder annulliert werden oder mit Verspätung starten und landen. Zudem nimmt das Problem der gezielten Überbuchung zu. Als Entlastungsgründe und nicht selten vorgeschobene Ausrede diente den Luftfahrtgesellschaften bis vor kurzem die Standardbegründung "technischer Defekt" am Flugzeug. Nachdem der EuGH die Voraussetzungen und Hürden der Entlastung durch technische Defekte mit seinem Urteil im Fall Friederike Wallentin-Hermann gegen Alitalia drastisch verschärfte, weichen die Fluggesellschaften auf Begründungen wie schlechte Wetterverhältnisse, Umlaufverspätung, erhöhter Air Traffic, Air-Traffic-Control (ATC)-Verspätung oder Streiks aus. Allesamt schwer verifizierbare Entlastungsgründe.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass hinter vielen Flugannullierungen und Streichungen rein wirtschaftliche Erwägungen stehen. Ist ein Flug nicht ausgebucht und nur spärlich besetzt, kann es sich für die Fluggesellschaft rechnen, den Flug zu annullieren und das Risiko der Entschädigungsansprüche von betroffenen Fluggästen in Kauf zu nehmen. Die Airlines wissen nur zu gut, dass die wenigsten Fluggäste ihre Fluggastansprüche wahrnehmen. Und von der Minderheit der Fluggäste, die Ansprüche geltend machen, setzt nur ein verschwindend geringer Teil seine Fluggastrechte durch.
Gegen die Methoden und die Praxis der Fluggesellschaften wollte der europäische Gesetzgeber die Fluggastrechte stärken und Fluggästen Ansprüche mit der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 an die Hand gegeben. Je nach Flugstrecke haben Fluggäste im Falle von Umbuchungen, Überbuchungen und Annullierungen nach der Fluggastverordnung Anspruch auf Ausgleichszahlung in Höhe von 250, 400 oder 600 Euro. Die materiellrechtlichen Ansprüche, wie z.B. der Anspruch auf Ausgleichszahlung im Falle der Annullierung oder Überbuchung in Höhe von EUR 600,00 klingen theoretisch wunderbar. Sind diese Ansprüche in der praktischen Durchsetzung jedoch mit nahezu unüberwindlichen Hürden verbunden, bleiben sie zahnlose Papiertiger und nützen Verbrauchern gar nichts. Wer zum Beispiel als Fluggast der Vietnam Airlines oder der Air Tanzania von einer Annullierung betroffen ist, kann seine Fluggastansprüche getrost vergessen, wenn er diese in Hanoi per Schriftsatz in vietnamesicher Sprache oder in Dar es Salaam per Schriftsatz in Kiswahili durchzusetzen hat. Es bedarf nicht einmal derartiger Übertreibungen. Ein Blick nach Europa genügt: Welcher deutsche Fluggast klagt schon in Riga (Geschäftssitz von Fluggesellschaften wie Air Baltic, u.a.), Dublin (Geschäftssitz von Fluggesellschaften wie Ryanair, Aer Lingus, u.a.), Palma de Mallorca (Geschäftssitz von Fluggesellschaften wie Spanair, u.a.) oder London Luton (Geschäftssitz von Fluggesellschaften wie Easyjet, u.a.), um seine Ansprüche durchzusetzen?
Beispielhaft ist der Fall des Peter Rehder. Herr Rehder wohnt in München und buchte bei der lettischen Fluggesellschaft Air Baltic Corp. einen Flug von München nach Vilnius für den 13. Mai 2005. Die Air Baltic Corp. hat ihren Geschäftssitz in der lettischen Hauptstadt Riga. Geplante Abflugzeit in München war 13:20 Uhr Ortszeit. Als geplante Ankunftzeit in Vilnius war 17:05 Uhr Ortszeit vorgesehen. Eine halbe Stunde vor dem geplanten Abflug wurde der Flug von der Fluggesellschaft annulliert. Herr Rehder wurde als Fluggast sodann von Mitarbeitern der Air Baltic auf einen Flug über Kopenhagen nach Vilnius umgebucht. Er kam erst mit sechsstündiger Verspätung am Zielort Vilnius an. Darauf hat er die Air Baltic wegen seiner Fluggastrechte in Anspruch genommen. Er forderte 250 Euro Ausgleichszahlung wegen der Flugannullierung und stützte seine Ansprüche auf die Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Die Frage, die sich dem Kläger und seinem Prozessbevollmächtigten stellte, war: Wo ist die lettische Fluggesellschaft wegen der Ansprüche zu verklagen? Wo ist die internationale Zuständigkeit welchen Gerichtes gegeben? Ist das Gericht des Wohnortes des Klägers in München zuständig? Oder ist das Münchener Gericht als Gericht des Abflugortes zuständig? Ist das Gericht des Geschäftssitzes der Beklagten in Riga zuständig? Oder ist das Gericht in Vilnius als Ankunftsort und Zielort zuständig?
Der Kläger reichte Klage beim Amtsgericht Erding ein. Das Amtsgericht Erding ist für das Gelände des Flughafens München zuständig, erachtete sich für international zuständig und sprach dem Kläger antragsgemäß die Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro zu. Daraufhin legte die Fluggesellschaft Berufung ein. Das Oberlandesgericht München entschied als Berufungsgericht, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht gegeben sei. Das OLG München hob das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage des Fluggastes als unzulässig ab. Daraufhin legte der Kläger Revision beim Bundesgerichtshof ein. Der BGH setzte das Verfahren wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Fragen aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften den Fall zur Vorabentscheidung vor. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sah die Problematik der Durchsetzung der Ansprüche von Fluggästen. Nach seinem Urteil vom 09.07.2009 (Rs. C-204/08, Peter Rehder gegen Air Baltic Corp.) stehen Fluggästen, die Fluggesellschaften wegen Ansprüchen aus Annullierung, Umbuchung oder Überbuchung verklagen wollen, nun zusätzlich zu den bisherigen Gerichtsständen, die Gerichte des Abflugsortes und des Ankunftsortes zur Verfügung. Fluggäste haben nunmehr die Wahl, wo sie Fluggesellschaften in Anspruch nehmen: Am Ort der Hauptniederlassung der Fluggesellschaft, am Ort des Ankunftsflughafens, am Ort des Abflughafens oder am Ort der Zweigniederlassung der Fluggesellschaft.
Verbraucher kennen in Europa den Verbrauchergerichtsstand gemäß Artikel 16 EuGVVO, der es ihnen ermöglicht, Klagen grundsätzlich "zu Hause" am eigenen Wohnsitz zu erheben. Dieser Verbrauchergerichtsstand steht Fluggästen, die im Rahmen einer Pauschalreise reisen im Rahmen von Ansprüchen gegen einen ausländischen Reiseveranstalter grundsätzlich offen. Der Verbrauchergerichtsstand gilt jedoch gerade nicht für Fluggäste, die ihre Ansprüche gegen eine Fluggesellschaft auf die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 stützen (vgl. die gesetzlich normierte Ausnahme Art. 15 Abs. 3 EuGVVO).
Die internationale Zuständigkeit von Gerichten in Europa regelt grundsätzlich die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (EuGVVO), soweit die in Anspruch genommene Fluggesellschaft ihren Hauptverwaltungssitz in einem Mitgliedstaat der EU hat (mit Ausnahme Dänemarks, das sich an der EuGVVO nicht beteiligt hat, so dass die EuGVVO für Dänemark nicht bindend ist). Nach dem in Art. 2 niedergelegten Grundsatz der EuGVVO gilt, dass Kläger einen Beklagten an dessen Wohnsitz in Anspruch zu nehmen haben. Für Gesellschaften und Firmen tritt an die Stelle des Wohnsitzes ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung (vgl. Art. 60 Abs. 1 lit. a,b,c EuGVVO). Im Falle von beklagten Airlines aus dem Vereinigten Königreich und Irland ist unter dem Ausdruck "satzungsmäßiger Sitz" das 'registered office' oder, wenn ein solches nirgendwo besteht, der 'place of incorporation' (Ort der Erlangung der Rechtsfähigkeit) oder, wenn ein solcher nirgendwo besteht, der Ort, nach dessen Recht die 'formation' (Gründung) erfolgt ist, zu verstehen (vgl. Art. 60 Abs. 2 EuGVVO).
Dies ist insbesondere für Fluggäste wichtig, die britische und irische Fluggesellschaften wie z.B. Ryanair, British Airways, EasyJet oder sogar Air Berlin in Anspruch nehmen wollen. Die Air Berlin hat als juristische Obergesellschaft die Rechtsform einer PLC (public limited company). Sie wurde in England und Wales gegründet und hat ihren eingetragenen Hauptsitz in Rickmansworth; der Sitz des Managements befindet sich in Berlin. Zudem kann in Einzelfällen der besondere Gerichtsstand der Zweigniederlassung Anwendung finden (vgl. Art. 5 Nr. 5 EuGVVO). Anspruchstellende Fluggäste mussten bisher prüfen, ob die Fluggesellschaft eine Niederlassung in Deutschland betreibt. Die besondere Zuständigkeit deutscher Gerichte gilt jedoch nur für "echte" Niederlassungen. Dies sind solche Niederlassungen, die nach außen hin gegenüber Fluggästen (z.B. durch Flugticketverkauf und Beratung) tätig werden. Eine bloße Internetpräsenz in deutscher Sprache oder ein Agentursitz, der lediglich mit "Interna" betraut ist und interne Organisationsaufgaben erfüllt, begründen keine besondere Zuständigkeit deutscher Gerichte. Ist ein Unternehmen in einem EU-Mitgliedstaat gegründet und dort rechtlich eingegliedert und im Handelsregister geführt, jedoch in einem anderen Mitgliedstaat mit einer Hauptniederlassung tätig, dann kann der Fluggast wählen, in welchem Staat er die Fluggesellschaft in Anspruch nimmt.
Der EuGH urteilte nun sehr verbraucher- und kundenfreundlich, dass die einzigen Orte, die eine nahe Verbindung zu den Dienstleistungen der Fluggesellschaft aufweisen, der Ort des Abflugs und der Ort der Ankunft des Flugzeugs sind. Unter den Begriffen „Ort des Abflugs“ und „Ort der Ankunft“ sind nach dem EuGH die Orte zu verstehen, die in der Buchungsbestätigung des Fluges genannt und vereinbart wurden. Denn die Dienstleistungen einer Fluggesellschaft sind primär die Abfertigung und das Anbordgehen der Fluggäste sowie ihr Empfang an Bord des Flugzeugs an dem im fraglichen Beförderungsvertrag vereinbarten Abflugort, der Start der Maschine zur vorgesehenen Zeit, die Beförderung der Fluggäste und ihres Gepäcks vom Abflugort zum Zielort, die Betreuung der Fluggäste während des Fluges und schließlich das sichere Verlassen des Flugzeugs durch die Fluggäste am Ort der Landung zur im Vertrag vereinbarten Zeit.
Zu beachten ist, dass Fluggäste Fluggesellschaften, die nicht in der Europäischen Gemeinschaft niedergelassen sind, nach den Regeln der internationalen Zuständigkeit und in diesem Zusammenhang nach dem Internationalen Privatrecht und des jeweils anzuwendenden Rechts in Anspruch nehmen können. In bestimmten Fällen, in denen das deutsche Recht Anwendung findet, wird der Abflugs- und der Ankunftsort als Erfüllungsorte die Zuständigkeit der deutschen Gerichte begründen. Grundsätzlich gelten diese Regeln auch für Fluggesellschaften aus Dänemark, der Schweiz, Island und Norwegen.
Weiterhin ist zu beachten, dass für Fluggäste, die ihre Schadensersatz-, Aufwendungsersatz- oder sonstige Ersatzansprüche auf differente Normen, wie z.B. das Montrealer Übereinkommen oder deutsches Vertragsrecht, stützen, unterschiedliche Regelungsrahmen geltend und gegebenenfalls gesondert geprüft werden muss, welches Gericht zuständig ist.
Die Rechtsanwaltskanzlei Bartholl berät Verbraucher, Reisende und Flugpassagiere zu Rechtsfragen über das gesamte Rechtsgebiet des Reise-, Flug- und Luftverkehrsrechts. Unter der Webseite der Kanzlei finden sich aktuelle Berichte und Informationen zu Themen wie: Fluggastrechte in Europa, Koffer weg- was kann ich tun?, Wie mache ich meine Ansprüche gegen Reiseveranstalter optimal geltend?, Gepäckverlust, Flugverspätung, Flugannullierung und die rechtlichen Folgen. Die Adresse lautet www.ra-janbartholl.de. Rechtsanwalt Jan Bartholl betreut Mandanten über juristische Details hinaus, erörtert mit jedem Kunden gemeinsam die Möglichkeiten im konkreten Einzelfall und prüft die weitere Vorgehensweise. Die Arbeit der Kanzlei Bartholl in Münster basiert auf Vertrauen, Diskretion und Verbindlichkeit.
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