(ots) -
"Es gibt Dinge, ĂŒber die spreche ich nicht einmal mit mir selbst"
Konrad Adenauer
Immer mehr Menschen zieht es heute in andere LĂ€nder, sie leben in
anderen Kulturen - teils aus privaten GrĂŒnden, hĂ€ufig aufgrund ihres
Berufes. Wer mit anderen lebt und arbeitet, ist darauf angewiesen, zu
verstehen und verstanden zu werden. Jeder Kulturkreis besitzt seine
eigenen ungeschriebenen Gesetze. Tabuthemen sollte man kennen. Wer
einen Tabubruch begeht - oft ganz unbewusst, besonders in anderen
LĂ€ndern - verletzt sein GegenĂŒber, denn es ist immer auch ein Angriff
auf die IdentitÀt des anderen. Woher kommen Tabus in unserer
scheinbar so tabulosen Zeit und wie kann man ĂŒber sie reden? Sabine
Krajewski, Kommunikationswissenschaftlerin und eine der fĂŒhrenden
Tabu-Forscherinnen, versucht herauszufinden, wie Austausch zu solchen
Themen zwischen Menschen funktionieren kann.
Interviewer:
Ich kann mich so bewegen, dass es behutsam und achtsam passiert,
aber eben auch verletzend. Menschen sind manchmal taktlos und
grenzĂŒberschreitend, teils auch unbewusst, weil sie kein Wissen haben
um bestimmte Verhaltensregeln und Tabus. Das hat zum GroĂteil mit
unterschiedlichen Kulturen zu tun. Aufgrund Ihrer verschiedensten
Auslandsaufenthalte, Ihrer Forschungen und Untersuchungen sind Sie zu
aufschlussreichen Ergebnissen gekommen. Vielleicht stellen Sie sich
erst mal vor, wer Sie sind, was Sie machen, und was Tabu fĂŒr Sie
bedeutet.
Krajewski:
Ich komme aus Berlin - gebĂŒrtig aus Salzgitter - und habe in
verschiedenen, vor allem angelsÀchsischen LÀndern gelebt, in den USA,
Kanada. FĂŒnf Jahre in England, dann wieder in Deutschland, von da aus
nach China und jetzt arbeite ich an der Macquarie University in
Sydney, Australien. Tabu ist fĂŒr mich ein elementares Thema in der
interkulturellen Kommunikation. Wenn man in einem Land fremd ist,
noch nicht vertraut mit den Gegebenheiten, kann man vieles falsch
machen. Die meisten Menschen kennen diese unangenehmen Augenblicke
des betretenden Schweigens, wenn man merkt, man ist ins FettnÀpfchen
getreten. AufklÀrung auf beiden Seiten ist notwendig und hilfreich.
FĂŒr mich war China das Fremdeste!
Interviewer: Haben Sie ein paar Beispiele fĂŒr uns?
Krajewski:
Was mir in China auffiel und mich am meisten begleitete, war, dass
Spucken kein Tabu ist, und zwar nirgends. Das ist das erste, das
auffĂ€llt, denn es passiert ĂŒberall, in RĂ€umen, auĂerhalb von RĂ€umen.
Im Bus finden Sie das stÀndig, ganz spannend im Taxi, da gibt es
einen Spucknapf zwischen Fahrer und Beifahrer...meistens geht's gut.
Spucken war frĂŒher auch in Europa kein Problem, das hat sich erst mit
der AufklÀrung wegen Tuberkulose geÀndert. Ein gutes Beispiel,
Verhaltensweisen immer im Kontext des jeweiligen Kulturkreises zu
betrachten.
Interviewer:
Die Chinesen ekeln sich nicht vorm Spucken - wie sieht es jetzt
bei Ihnen aus?
Krajewski:
Ich ekel mich immer noch, sogar noch mehr! In China gilt Spucken
als reinigend, es gibt viel Luftverschmutzung und die muss raus. Das
Spucken anzusprechen ist allerdings keine gute Idee, es wird entweder
oder das Thema gewechselt, es ist ein Tabubereich, obwohl es ĂŒberall
prÀsent ist.
Interviewer:
Gibt es in China ein Tabu, das bei uns Konvention ist, worĂŒber Sie
sich gewundert haben?
Krajewski:
Ja, Umkehrungen finde ich interessant, z.B. was bei uns tabu ist
beim Essen oder wie man Tiere behandelt, das ist in China ganz
anders. Wenn das Essen noch lebendig ist, dann ist es einfach frisch
und besonders empfehlenswert. Ein noch lebender Hummer zum Beispiel,
wo der Kopf noch atmet und der Körper schon abgetrennt und
mundgerecht gewĂŒrfelt ist.
Interviewer:
Welche Verhaltensweisen in China sind so ganz anders als bei uns?
Welche Tabus gibt es noch? Ist SexualitÀt - auch HomosexualitÀt -
Thema?
Krajewski:
Verhaltenstabu ist der Austausch von ZĂ€rtlichkeiten in der
Ăffentlichkeit - das wird nicht gern gesehen. MĂ€dchen miteinander
gehen Hand in Hand, aber MĂ€dchen und Junge nicht. Man kĂŒsst sich auch
nicht öffentlich. Auch nicht in Filmen. SexualitÀt ist nicht Teil der
Ăffentlichkeit. Die junge Generation ist da schon ein bisschen
anders, aber es wird nicht öffentlich geknutscht, das ist ein Tabu.
Interviewer:
Was ist mit HomosexualitÀt?
Krajewski:
Gibt es nicht, nicht offiziell.
Interviewer:
Was sagen Sie Managern, die nach China gehen?
Krajewski:
Es ist inzwischen relativ bekannt, dass man die Visitenkarte mit
beiden HĂ€nden ĂŒbergibt und die, die man bekommt, nicht einfach in der
Hosentasche verschwinden lÀsst. Eine echte Herausforderung gibt es
bei GeschÀftsessen, denn es ist sehr unhöflich, etwas abzulehnen. Es
gibt einen Unterschied zwischen der Reaktion von Frauen und MĂ€nnern.
MĂ€nner machen sich einen SpaĂ daraus, fast ein Sport, alles zu essen,
auch unbekannte glibberige Sachen, weil sie nicht schwach wirken
wollen. Frauen sind eher mal geneigt zu sagen: ich bin schon so satt.
Sie tun sich das nicht an.
Interviewer:
Tabus verĂ€ndern sich doch auch ĂŒber die Zeit?
Krajewski:
Immer wieder erlebe ich mit meinen Studenten der interkulturellen
Kommunikation, die aus vielen verschiedenen LĂ€ndern und Kulturen
kommen, dass man sich oft nicht bewusst ist, dass verschiedene
Personen das gleiche Thema ganz unterschiedlich betrachten, es eben
nicht nur eine Sichtweise gibt. Und dass sich die Einstellungen und
Tabus ĂŒber die Zeit verĂ€ndern. Bis in die spĂ€ten achtziger Jahre war
HomosexualitÀt strafrechtlich verfolgt in Australien. Die jungen
Studenten wissen das gar nicht mehr. Oder am Beispiel des Themas
Scheidung. Noch vor 30, 40 Jahren waren geschiedene Frauen
gebrandmarkt, darĂŒber sprach man nicht, ein wirkliches Tabuthema.
Heute sieht das in Australien ganz anders aus, aber in Indien ist es
noch immer ein sehr groĂes Tabu. Viele Dinge sind einfach eine Frage
der Zeit. Was tabu ist, hÀngt vom Ort ab, an dem man ist, von der
Zeit, in der man lebt und von persönlichen UmstÀnden wie Geschlecht,
Alter, Herkunft, Bildung, Religion u.a.
Interviewer:
Wie reagieren Chinesen, wenn Tabus verletzt werden?
Krajewski:
Durch Schweigen. Daher dauert es oft, bis man ĂŒberhaupt merkt,
dass man einen Tabubruch begangen hat. In asiatischen LĂ€ndern geht es
darum, das Gesicht zu wahren, das eigene, aber noch viel mehr das
Gesicht des anderen. Ein Chinese, der freundlich sein will, wird
immer dein Gesicht wahren wollen, also keine Kritik Ă€uĂern.
Interviewer:
Wie streitet man auf Chinesisch zum Beispiel?
Krajewski:
Gar nicht. In China und auch vielen anderen asiatischen LĂ€nder
sind Auseinandersetzungen niemals konfrontativ, weil es das
Gesicht-wahren verhindert, den anderen bloĂstellen könnte. Man will
sich ja spÀter wieder begegnen können.
Interviewer:
Doch wo bleiben all die Emotionen, Aggressionen?
Krajewski:
Das hat man in den Kulturkreisen einfach viel besser im Griff als
bei uns, sie sind kontrollierter. Wer im Streit die Stimme erhebt
oder schreit, verliert damit sein Gesicht. Daher tun Chinesen das im
Prinzip nicht.
Interviewer:
Kann man sagen, dass die GesetzmĂ€Ăigkeit des Gesicht-wahrens eine
so groĂe Anforderung ist, die Kraft verleiht, Dinge zu unterlassen,
die wir hier tun?
Krajewski:
Ja. Die Chinesen sind viel ausgeglichener - zumindest kommen sie
so rĂŒber.
Interviewer:
Gibt es auch ein schönes Tabu, das Sie in China oder einem anderen
Land erlebt haben? Etwas, das Sie gerne auch bei uns hÀtten?
Krajewski:
Ich finde es erfreulich, dass die Menschen in den asiatischen
LĂ€ndern sich nicht so auseinandernehmen, vor allem nicht vor anderen
Leuten. Dass es dort eine andere Art der Kommunikation gibt - die des
Gesicht-wahrens, mehr Achtsamkeit. Das ist ein schönes Tabu. Weniger
anstrengend.
Interviewer: Ist es nicht im Gegenteil viel anstrengender, dauernd
die Grenzen auszuloten? Was darf ich noch, wo habe ich eine Grenze
ĂŒberschritten?
Krajewski:
Zwischen GesprÀchspartnern aus verschiedenen Kulturkreisen schon,
aber zwischen den Chinesen funktioniert es völlig unangestrengt. Es
gibt einfach ganz viel Unausgesprochenes, das man aber als
Einheimischer weiĂ, weil es ein Teil der Kultur ist. Eine sehr
wichtige Erkenntnis: wenn man in Asien zum Beispiel "vielleicht" oder
"kann schon sein" sagt, heiĂt das eigentlich "nein".
Interviewer:
Und wie ist es mit dem Thema Tod?
Krajewski: In Europa haben die Menschen meist das Problem damit,
wie sie mit den Hinterbliebenen umgehen sollen. In China ist alles,
was mit dem Tod zu tun hat, absolut tabu. Ăber Tod zu sprechen ist
mehr tabuisiert als in westlichen LĂ€ndern.
Interviewer:
Stimmt es, dass die Vier dem Todeszeichen entspricht?
Krajewski:
Ja, es ist einfach das gleiche Wort, "sĂ" heiĂt vier, klingt aber
genauso wie das Wort fĂŒr Tod, es ist ein Homonym. Daher gibt es keine
vierte Etage, Audi A4 kann man nicht verkaufen. In ein Haus
einzuziehen mit der Nummer vier bringt UnglĂŒck - wie bei uns mit der
Zahl 13, die auf das Abendmahl zurĂŒckgeht.
Interviewer:
Sie vermitteln Menschen Wissen, wie sie sich in der anderen Kultur
verhalten, mit welchen Tabus sie es zu tun haben werden. Was geben
Sie an diejenigen weiter, die aus anderen LĂ€ndern nach Deutschland
gehen? Welche Tabus sollten sie kennen? Nennen Sie uns drei Tabus,
die beachtet werden sollten in unserem Land.
Krajewski:
Aus meiner Sicht ist alles, was mit dem Holocaust zusammenhÀngt,
ein schwieriges Thema. Bestimmte Fragen sollte man nicht stellen, die
aber eher universell tabu sind, wie nach Verdienst, Alter oder
Krankheiten. Mir fallen mehr Beispiele ein, was man als Deutscher in
anderen LÀndern nicht machen sollte: man sollte sich nicht stÀndig
beschweren. Das macht kein Chinese. Australier auch nicht. Also als
Deutscher ist das auch immer unangemessen.
Interviewer:
Verraten Sie uns Ihre Motivation, sich mit diesem Thema, mit Tabus
und ihrer Wirkungen zu befassen?
Krajewski:
Weil ich viel gereist bin. Die erste Konfrontation fĂŒr mich war,
als ich in London gelebt habe, einer Stadt, in der es sehr viel
bunter war als in Berlin. Da habe ich mal eine schwarze Studentin
gefragt, wo sie denn ursprĂŒnglich herkommt. Das macht man natĂŒrlich
nicht, sie war EnglÀnderin. Als bei mir der Groschen fiel, war es mir
sehr peinlich. Mein erster Fettnapf - zumindest der, den ich bemerkt
habe. So fing ich an, mich fĂŒr Tabus zu interessieren, was merkt man,
was nicht, wie kann man es vermeiden und wie repariert man es, wenn
einem so was passiert. Eine Kultur lÀsst sich ja nicht in die andere
ĂŒbersetzen, man muss einfach einen anderen Denkansatz haben.
Interviewer:
Wie können Ihre Erkenntnisse im Business weiterhelfen? Was dĂŒrfen
Unternehmen erwarten von StudienabgÀngern mit mehr interkultureller
Kompetenz?
Krajewski:
Unternehmen wollen Menschen einstellen, die wissen, wie man mit
Kolleginnen und Kollegen aus anderen LĂ€ndern gut kommunizieren und
arbeiten kann ohne gravierende MissverstĂ€ndnisse und TabubrĂŒche.
Offene Augen, offene Herzen, Achtsamkeit und eine gute Portion Humor
helfen, manch direkten Tritt ins FettnÀpfchen zu verhindern - oder zu
verkraften. Unternehmen wissen inzwischen, dass sie ihre Leute auf
einen Auslandsaufenthalt vorbereiten mĂŒssen. Ebenso ist eine
Begleitung notwendig nach RĂŒckkehr, denn man erlebt noch mal einen
Kulturschock, da man das eigene Land aus der Ferne ganz anders sieht
- egal, wo man gelebt hat. So erhÀlt man die beste Synergie in
unserer globalisierten und zusammenrĂŒckenden Welt.
Interviewer:
Sie vermitteln Menschen etwas ganz Wesentliches, dass ihnen hilft,
sich ĂŒber sich selbst hinaus zu entwickeln und dadurch was Neues zu
erwerben. Sich mit Tabus zu befassen, hat etwas mit WertschĂ€tzung fĂŒr
andere LĂ€nder, fĂŒr andere Sitten, andere Kulturen zu tun. Tabus
Ă€ndern sich und mit ihnen die Welt. Tabus schaffen neue Sichtweisen
und schÀrfen das Hinsehen. Dank Ihrer Kompetenz gewÀhren Sie den
Menschen und uns mit diesem Interview einen spannenden Einblick in
ein wichtiges Thema. Vielen Dank.
Krajewski:
Danke schön.
Sabine Krajewski
Tabu
Hinhören, hinsehen, besprechen
ca. 180 Seiten, Broschur
EUR 17,95
ISBN 978-3-89901-826-4
Auch als eBook erhÀltlich
Pressekontakt:
Maren Brand
Marketing & Ăffentlichkeitsarbeit
J.Kamphausen | Mediengruppe
Goldbach 2
33615 Bielefeld
Fon +49 (0)521 56052 232
Fax +49 (0)521 5605229
maren.brand(at)j-kamphausen.de
www.weltinnenraum.de