(ots) - Trotz Sondergipfel ist die EU einer festen
Quotenverteilung der Flüchtlinge nicht näher gekommen. Unter dem
Druck des Ansturms ist nun aber sogar die Kanzlerin bereit, mit dem
bisher verfemten syrischen Diktator Assad zu reden. Eine Forderung,
die Alexander Graf Lambsdorff, Vize-Präsident des Europäischen
Parlaments, unterstützt: "Die einzigen effektiven Bodentruppen, um
den Islamischen Staat zu bekämpfen, stellt im Moment Damaskus."
Mit dem EU-Sondergipfel wird die Flüchtlingskrise zur Chefsache.
Zu spät?
Alexander Graf Lambsdorff: Dieser Gipfel kam definitiv zu spät.
Wir haben eine große humanitäre Krise, die ja nicht erst vor kurzer
Zeit ausgebrochen ist, sondern die schon seit Monaten, wenn nicht
Jahren schwelt. Zur Rettung Griechenlands sind Gipfel um Gipfel
einberufen worden, aber in der Flüchtlingskrise stand die
Bundesregierung bis zur letzten Minute auf der Bremse.
Viele Länder klagen über Belastungen, ohne von der Zuwanderung
wirklich betroffen zu sein. In den Syrien-Treuhandfonds, aus dem die
Türkei mit zwei Millionen Flüchtlingen nun Geld erhält, haben bisher
aber nur Italien und Deutschland eingezahlt. Fehlt der
Krämergemeinschaft EU das Herz?
Graf Lambsdorff: Der EU der egoistischen Nationalstaaten fehlt
ganz sicher das Herz. Der EU der Institutionen, also Kommission und
Parlament, fehlt es dagegen nicht. Und es fehlt auch nicht den vielen
Helfern in Deutschland und anderen Ländern, die anpacken, um den
ankommenden Flüchtlingen zu helfen.
Schon im Sommer segneten die Minister den Plan der EU-Kommission
zur Verteilung von 40 000 Flüchtlingen ab. Warum hinkt das
Europa der Mitgliedsländer hinter dem Europa der Institutionen so
hoffnungslos hinterher?
Graf Lambsdorff: Das liegt darin begründet, wer in dieser Frage
den Ton angibt - und das sind die Innenminister. Deren Denken ist
noch zu sehr von der Vorstellung geprägt, dass nur ins Land gelassen
wird, wem das ausdrücklich erlaubt worden ist. Das ist in einer Ära
großer Wanderungsbewegungen ein veraltetes Denken, wie wir ja alle
gerade sehen können. Der Schock, der dieses Denken nun hinweggefegt
hat, ist so stark, dass die Nationalstaaten noch keine Strategie
angesichts der neuen Herausforderungen haben. In den letzten Wochen
war zu erleben, wie kopflos etwa die Bundeskanzlerin und
Innenminister Thomas de Maizière handelten.
An Europas Südgrenzen zur Dritten Welt zeigt sich schon länger,
dass das Dublin-System nicht krisentauglich ist. Wieso wurden
entsprechende Warnungen so lange ignoriert?
Graf Lambsdorff: Athen und Rom haben schon vor Jahren gesagt, dass
dieses System, wonach jeder Flüchtling dort registriert werden und
bleiben muss, wo er in Europa ankommt, im Fall einer echten Krise
nicht praxistauglich ist. Dies wurde von den Freien Demokraten, aber
auch von SPD und Grünen ebenfalls erkannt. Aber CDU und CSU
verweigerten sich bis zuletzt der Realität, dass Deutschland ein
Einwanderungsland ist - ja sogar Einwanderung braucht.Außerdem haben
die Unionsparteien in der Bundesregierung über Jahre das Gebot
europäischer Solidarität gegenüber den Südstaaten der Union verletzt,
die die Hauptlast der ankommenden Flüchtlinge zu bewältigen hatten.
Wie gesagt, Rom und Athen haben schon lange darum gebeten, Dublin zu
überarbeiten, aber aus Berlin wurde ihnen die kalte Schulter gezeigt.
Entlarvt die Flüchtlingskrise die Untauglichkeit des
Einstimmigkeitsprinzip auf Regierungschef-Ebene?
Graf Lambsdorff: Grundsätzlich ist das Einstimmigkeitsprinzip
natürlich ein Hindernis, um angesichts akuter Krisen schnell zu
Entscheidungen zu kommen. Ich halte es dennoch für falsch, dass in
einer solch sensiblen Angelegenheit wie der Verteilung der
Flüchtlinge nun einzelne Mitgliedstaaten niedergestimmt wurden.
Erzwungene Solidarität hilft weder den Flüchtlingen noch den Helfern.
Warum wurden verbindliche Quoten nicht schon vor Wochen, sondern
erst jetzt mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat beschlossen?
Graf Lambsdorff: Von Seiten der EU Zwang auszuüben, bedeutet
gerade für die ost- und mitteleuropäischen Staaten einen dramatischen
Eingriff in ihre Souveränität, wie sich jetzt an der Empörung in
Prag, Bratislava, Bukarest und Budapest ablesen lässt. Hier mag die
Erinnerung an den bloßen Satelliten-Status im Sowjetimperium noch
mitschwingen. Deswegen hat die FDP vorgeschlagen, dass die Staaten,
die bereit sind, sich in der Flüchtlingskrise zu engagieren - also
Italien, Schweden, Österreich, Deutschland und viele andere - auf
freiwilliger Basis einen Quotenschlüssel festlegen. Dies würde den
anderen Staaten die Chance eröffnen, sich diesem System
anzuschließen, sobald es ihnen politisch möglich ist. Wenn sich neue
EU-Mitglieder dieser "Koalition der Willigen" freiwillig anschließen
könnten, käme die EU um die Gefahr eines Zerwürfnisses herum.
Stacheldraht, Tränengas und Armee an den Grenzen. Verrät Europa
sein humanistisches Erbe?
Graf Lambsdorff: Es ist richtig, dass unsere Außengrenzen
geschützt werden müssen und es ist auch nachzuvollziehen, dass die
Flüchtlingsbewegung manche Staaten überfordert hat. Dennoch versteht
sich Europa als Quell der Menschenrechte. Und das kann in der
aktuellen Situation nur heißen, dass es oberste Priorität haben sein
muss, Menschen zu retten, zu schützen und menschenwürdig zu
versorgen. Gerade Ungarn hat aber teilweise Maßnahmen angeordnet, die
mit den im EU-Vertrag niedergelegten Werten nicht vereinbar sind.
Die Türkei, Jordanien und der Libanon schultern seit Monaten vier
Millionen Flüchtlinge. Europa legt bereits bei einigen
Hunderttausenden die Errungenschaft der Reisefreiheit auf Eis. Ist
Europa eine Schönwettergemeinschaft?
Graf Lambsdorff: Die syrischen Nachbarstaaten beherbergen die
Flüchtlinge bereits seit Jahren, schon seit 2012. So gewährt die
Türkei den Syrern auf ihrem Territorium auf vorbildliche Weise
Schutz. Allerdings werden die Menschen nur untergebracht, sie haben
keine Perspektiven auf Bildung oder auf Integration auf dem
Arbeitsmarkt, deshalb ziehen sie weiter. Hauptziel ist Europa. Diese
Herausforderung müssen wir auch in stürmischer See bewältigen, als
Schönwettergemeinschaft haben wir in der sich wandelnden Welt des 21.
Jahrhunderts keine Zukunft.
Erzwingt die neue Völkerwanderung westliches Engagement, um das
Blutvergießen in Syrien zu beenden - entweder mit Assad als
Verbündetem im Kampf gegen den IS oder mit Assad als abzusetzendes
Hindernis für eine Stabilisierung?
Graf Lambsdorff: In der Tat können wir nicht über Fluchtursachen
debattieren ohne die Bereitschaft, den Islamischen Staat zu
bekämpfen. Und der nüchterne Blick auf die Realität zeigt: Die
einzigen Feinde des IS, die derzeit Bodentruppen in der Region haben,
sind die Syrer, gestützt von Russland. Also müssen wir eine
Übereinkunft mit dem Kreml anstreben, damit dieser seinen Verbündeten
in die Lage versetzt, den IS zu besiegen. Gleichzeitig muss Assad
aber auch dazu bewegt werden, seine Unterdrückungspolitik gegenüber
der eigenen Bevölkerung zu beenden. Die vielen Geflohenen müssen die
Perspektive bekommen, in ein Land zurückzukehren, in dem die
Menschenrechte respektiert werden. Im Moment gibt es da wenig Anlass
zu Hoffnung. Aber ohne Assad wird ein Sieg über den IS nicht möglich
sein.
Die derzeit effektivsten IS-Feinde haben sie nicht genannt, die
Kurden. Die FDP ist aber gegen die Waffenlieferungen an die
Peschmerga. Die USA räumten aber gerade selbst ein, dass ihre
Luftschläge verpuffen...
Graf Lambsdorff: Wir haben uns kritisch zu diesen
Waffenlieferungen geäußert, weil die Erfahrungen etwa aus Afghanistan
lehren, dass derartige Waffen nach einer gewissen Zeit nahezu
zwangsläufig in die falschen Hände geraten. Aus unserer Sicht wäre es
sinnvoller, uns zusammen mit den USA, England und Frankreich an einer
Bekämpfung des IS aus der Luft zu beteiligen. Was die Ausbildung von
Peschmerga nicht ausschließt. Jedes militärische Vorgehen muss aber
grundsätzlich eingebettet sein in einen politischen Prozess, sonst
bleibt die dauerhafte Stabilisierung der Region Illusion.
Nun räumt auch die CDU ein, dass Deutschland ein Einwanderungsland
ist. Kommen nun legale Zugangswege für Arbeitsmigranten und
entsprechende Qualifizierungsprogramme für Südosteuropa? Graf
Lambsdorff: Das ist absolut notwendig. Von den Wirtschaftsverbänden
und mittelständischen Betrieben wissen wir um den enormen Bedarf an
Fachkräften. Nun gebe ich mich nicht der Illusion hin, dass der aus
Albanien Zugewanderte umstandslos sofort als Fachkraft eingesetzt
werden kann. Deshalb bedarf es auch einer gewissen Geduld,
entsprechende Ausbildungsprogramme einzurichten. Eine fluchtartige,
ungeordnete Zuwanderung würde derartige Bemühungen natürlich
untergraben. Deshalb fordert die FDP seit langem ein
Einwanderungsgesetz und ich freue mich, dass die Union nach zwanzig
Jahren endlich Einsicht zeigt.
Sind die Reaktionen der Europäer zu kurzatmig, um den länger
währenden Flucht- und Migrationsbewegungen gerecht zu werden?
Graf Lambsdorff: Wenn wir ehrlich sind, hat niemand in
Wissenschaft, Publizistik oder Politik stimmige Konzepte, wie wir mit
einer Globalisierung umgehen sollen, die von solchen
Migrationsbewegungen geprägt wird. Deshalb bedarf es einer breiten
Diskussion darüber, wie diese Migration so gesteuert werden kann,
dass sie den Interessen der flüchtenden Menschen gerecht wird, aber
auch unseren - und das, ohne dass unsere Bevölkerung überfordert
wird. Auch die FDP hat dafür kein Patentrezept. Aber eines ist klar:
Die Vogel-Strauß-Politik, zu bestreiten, dass Deutschland
Einwanderungsland ist, und die Regelung von Zuwanderung zu
verweigern, weil man an der Illusion festhält, dass das Dublin-System
funktioniert, ist an ihr Ende gekommen.
Wie werden Historiker über Europa urteilen: Geplatzter Traum oder
Erfolgsgeschichte?
Graf Lambsdorff: Wir haben es in der Hand, Europa zur
Erfolgsgeschichte zu machen, wenn wir die Entscheidungsstrukturen zu
einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" modernisieren, wenn wir
eine Region des Wohlstands und sozialen Ausgleichs bleiben und wenn
es uns gelingt, unsere humanitären Werte in praktische Politik
umzumünzen, gerade auch angesichts der Flucht- und
Migrationsbewegungen. ↔Das Interview führte ↔Joachim
Zießler
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