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Landeszeitung Lüneburg: "Europa bleibt ein Sanierungsfall" Interview mit dem Experten Dr. Kai-Olaf Lang

ID: 1303378

(ots) - Die EU steckt in der tiefsten Krise ihrer
Geschichte. Alles ist umstritten: Mehr Europa - oder weniger? Mehr
Haushaltsdisziplin - oder mehr staatliche Aktivität? Offene
Gesellschaften - oder "Festung Europa"?

Flüchtlingskrise, Naher Osten, Ukraine, Griechenland - Gehen die
aktuellen Krisen dem Projekt Europa an die Substanz?

Dr. Kai-Olaf Lang: Krisen sind so alt wie die europäische
Integration. Immer wieder gab es Phasen schweren Seegangs, neu ist
die Gleichzeitigkeit mehrerer großer Krisen, die noch dazu
miteinander verwoben sind. Das stellt den Glaubenssatz in Frage, nach
der eine Krise eine Chance ist, aus der man gestärkt hervorgeht. 

Während die mittel- und osteuropäischen Länder Solidarität
einfordern, um ein Russland einzuhegen, das Grenzen nicht akzeptiert,
verweigern sie Solidarität, wenn es um eine Lastenverteilung in der
Flüchtlingsfrage geht. Wieso funktioniert der Interessenausgleich in
diesem Punkt nicht?

Dr. Lang: Wir beobachten seit Jahren, nochmals angeheizt durch die
Finanz- und Wirtschaftskrise eine wachsende Renationalisierung in der
Europäischen Union. Regierungen fechten konsequenter für ihre
nationalen Interessen. Die Hauptstädte gewinnen gegenüber Brüssel an
Gewicht. Aus Sicht der Ost- und Mitteleuropäer stellt sich die Frage
nach der Solidarität umgekehrt. Wer da europäischen Geist in der
Flüchtlingspolitik anmahnt, bekommt als Antwort: Was ist mit der
Energiepolitik - etwa dem Nord-Stream-2-Projekt, also der Pipeline,
mit der Russland an den östlichen EU-Mitgliedsstaaten vorbei Gas nach
Deutschland liefert? Oder was ist mit dem ursprünglichen Design der
Flüchtlingspolitik, dem Dublin-Vertrag, der das Fernhalten der
Flüchtlinge von seinen Grenzen festschrieb?

Viele Zeigefinger zeigen auf Deutschland. Wenn das
wirtschaftsstärkste Land Europas den Kurs vorgibt - wie etwa in der




Flüchtlingskrise, der Klimapolitik und Griechenlands Schuldendrama -
stemmen sich die Partner dagegen. Agiert Deutschland nur ungeschickt
oder ist es einfach zu groß für Europa?

Dr. Lang: Die Stimmung in Europa ist ambivalent. Fast alle
Mitgliedsstaaten wollen mehr deutsche Führung. Sie wollen, dass
Deutschland seine Verantwortung als das Land mit dem größten
Potenzial wahrnimmt. Aber sie lehnen Alleingänge Berlins ab und
bestehen auf einer gemeinsamen Führung. Alles andere wird als
deutsche Bevormundung wahrgenommen. Aus deutscher Perspektive sind
dabei zwei Punkte zu berücksichtigen: Erstens, wer Führung ausübt,
muss meistens mit Gegenwind rechnen. Diese Erfahrung machen die USA
seit Jahrzehnten, können deshalb besser damit umgehen. Zweitens: Man
darf seine Sensibilität für die Interessen der anderen, gerade der
kleineren und mittleren Länder nicht verlieren. Die Formel deutscher
Diplomatie, was gut ist für Deutschland, ist auch gut für Europa,
wird von den anderen nicht unterschrieben.

Führt der Zwang zu gemeinsamer Führung zu einem Europa der zwei
Geschwindigkeiten, in dem "Koalitionen der Willigen" vorangehen,
damit die anderen nachziehen, wenn sie können und wollen?

Dr. Lang: Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist
längst Realität. Nicht alle Mitgliedstaaten sind in der Eurozone,
nicht alle sind im Schengen-Raum. Die EU ist infolge ihrer
Erweiterungsrunden immer heterogener geworden. Gleichzeitig haben
sich neue Ungleichgewichte zwischen einst paritätischen Partnern
ergeben. Denken wir nur daran, dass sich Deutschland und Frankreich
wirtschaftlich deutlich auseinanderentwickelt haben. Das Problem der
letzten Jahre ist, dass sich neue politische, gesellschaftliche oder
wirtschaftliche Konfliktachsen ergeben haben. Vereinfacht gesagt,
sind es drei große Auseinandersetzungen, um die es geht: erstens Nord
gegen Süd in Wirtschafts- und Finanzfragen, also Länder, die der
Haushaltskonsolidierung Vorrang einräumen gegenüber Ländern, die die
Krise mit Stimuli und einer aktiven Rolle des Staates überwinden
wollen. Zweitens "altes" versus "neues Europa", also Mitgliedstaaten,
die das Konzept "offener Gesellschaften" verfolgen und solche, die
etwa in Sachen Zuwanderung restriktiv sind. Drittens Vertiefer gegen
Souveränisten. Hier geht es um die Diskussionen zwischen Ländern, die
mehr Europa als Antwort auf die Krise anstreben, und solchen, die
Kompetenzen von Brüssel zurückholen wollen - wie etwa Großbritannien.

Schon im nächsten Jahr könnten die Briten den Austritt
beschließen. Könnte die EU das Ausscheren eines der Mutterländer der
Demokratie verkraften?

Dr. Lang: Ja, aber es wäre eine Schwächung des europäischen
Projektes, wenn erstmals ein Land - noch dazu ein ganz wichtiges -
der Union den Rücken kehrt. Das Signal wäre fatal, weil die außen-
und verteidigungspolitische Handlungsbereitschaft der EU sinken
würde. Zudem würden die Fliehkräfte zunehmen. Andere Staaten könnten
einen reduzierten Status einfordern. Auf der anderen Seite wäre die
EU nach einem Brexit kompakter, weil ein Player fehlen würde, der auf
die Bremse tritt. Frankreich würde vielleicht sogar insgeheim erfreut
sein, weil Paris mit seinem dann gewachsenen Gewicht leichter seine
wirtschaftspolitischen Vorstellungen durchsetzen könnte.

In den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer ist Europa der
Sehnsuchtsort. Warum gilt das nicht in Europa?

Dr. Lang: Die Europäer haben sich an die Errungenschaften der EU
gewöhnt, halten sie für selbstverständlich. Der Ursprungsimpuls des
Integrationswerkes, Frieden und Wohlstand über ein kooperatives
Miteinander zu erreichen, ist in den Hintergrund gerückt. Obwohl
diese Fragen gerade brandaktuell sind. Die Zeit der europäischen
Prosperität ist in vielen Staaten vorüber, Deutschland ist in einer
Ausnahmesituation. Im Osten Europas werden gewaltsam Grenzen
verschoben. Und in der weitgefassten südlichen Nachbarschaft Europas
wächst die Instabilität. Dennoch grassiert Europamüdigkeit, das
Projekt entrückt den Bürgern, wird zu einem Elitenprojekt. Ich denke,
Europa wird wieder attraktiv, wenn es liefert - wenn es Krisen
bewältigt. 

Was muss Europa liefern, damit auch die Nachkriegsgenerationen ein
Verständnis dafür entwickeln, dass Europa ein Projekt ist, um den
Kontinent zu befrieden?

Dr. Lang: Europa liefert ja in wichtigen Bereichen. Vor zehn
Jahren hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass die EU-Staaten
mit ihren so unterschiedlichen Interessen gegenüber Russland in der
Ukraine-Krise in der Lage sind, Sanktionen gegen Russland aufzulegen.
Das hat den Russland-Ukraine-Konflikt nicht lösen können, aber eine
weitere Eskalation verhindert. Oder die von der EU-Kommission
forcierte Energie-Union und generell die europäische Energiepolitik,
die dazu beiträgt, die Osteuropäer viel weniger verwundbar zu machen
und den harten Griff von Gazprom zu lockern. Ganz zu schweigen von
den Vorteilen eines riesigen gemeinsamen Marktes mit einheitlichen
Regeln und - trotz aller Probleme mit dem Euro - auch einer
gemeinsamen Währung - gerade für eine exportorientierte
Volkswirtschaft wie die deutsche. Einige konkrete Effekte Europas
sind zwar von vielen erfahrbar, so etwa die reduzierten
Roaming-Gebühren, sie werden aber von den Krisen überlagert. Deshalb
müssen die alten Funktionen der europäischen Integration, also Europa
als Wohlstands- und Schutzverbund spürbar werden. Zudem muss die EU
zur Gestaltungsgemeinschaft werden. Etwa in ihren Nachbarschaften.
Wenn sie nicht in der Lage ist, dort Stabilität zu schaffen, wird sie
auf internationaler Ebene wenig Kraft entwickeln. Und nicht zuletzt
muss die EU ihre Standards und Werte zumindest teilweise durchsetzen,
etwa in den Verhandlungen über den transatlantischen Freihandel - und
im Wettbewerb mit China und anderen aufsteigenden Mächten bestehen.

Die ungarische Demokratie bekommt zunehmend autokratischere Züge,
Ähnliches befürchten Polen auch für ihr Land. Gefährdet die Angst vor
Identitätsverlust die demokratische Verfasstheit des Kontinents?

Dr. Lang: Diese innenpolitischen Entwicklungen begannen lange vor
der Flüchtlingskrise. Sie speisen sich aus Defiziten in der
Funktionalität des Staatsapparates und aus einer seit dem
Systemwechsel offenen sozialen Frage. Korruption, klientelistische
Netzwerke und große gesellschaftliche Gruppen, die nicht am
Aufschwung teilhaben, sorgten in diesen Ländern für einen Unmut der
Wähler, der Parteien an die Macht brachte, die eine "Reparatur des
Staates" oder eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik versprachen.
Neben solchen greifbaren Problemen spielt Identitätspolitik durchaus
eine Rolle. Politiker wie Viktor Orbán in Ungarn oder Jarosław
Kaczyński in Polen möchten die kulturellen oder historischen
Besonderheiten ihrer Länder und ein traditionelles Wertefundament
stärken. Problematisch ist weniger, dass sie das tun, denn dafür
haben sie ein Mandat, aber wie sie das teils tun. Ich würde etwa mit
Blick auf Ungarn nicht von Autokratie sprechen, sondern von
Machtzentralisierung und Mehrheitsdemokratie. Insgesamt ist die EU
gefordert, wachsam auf die Stabilität der Demokratie in den
Mitgliedstaaten zu schauen und sich zu überlegen, wie sie effektiv
gegen mögliche Verletzungen von Mindeststandards vorgeht.

Ist es nicht bitter, wenn schwaches Krisenmanagement der EU
angelastet wird, obwohl die Nationalstaaten verantwortlich sind?

Dr. Lang: In der Tat. Aber auch dieses Spiel ist nicht neu. Für
Regierungen in Mitgliedstaaten hat die EU ja immer auch die bequeme
Funktion, dass man eine äußere Institution hat, auf die man
Fehlentwicklungen abschieben kann. Damit will ich nicht behaupten,
dass nicht auch die sogenannten Gemeinschaftsorgane, also etwa die
Brüsseler Kommission, oft über ihr Ziel hinausschießt oder nicht
sachgerecht handelt. Wichtig scheint mir, dass wieder ein Geist der
Gemeinsamkeit gegenüber einer Haltung der Rivalität zwischen den
Mitgliedstaaten und Brüssel aber auch zwischen den Mitgliedstaaten
selbst gestärkt wird.

In der Krise erinnern sich manche Regionen daran, dass sie allein
eigentlich wohlhabend sind. In Katalonien proben Separatisten die
Abspaltung, die Lombardei will nicht mehr für Sizilien zahlen,
Flandern nicht mehr für Wallonien. Beendet der Aufstand der
wohlhabenden Regionen die Integrationsära Europas?

Dr. Lang: Nein. Umgekehrt gilt, wenn überhaupt eine Macht das
abfedern kann, dann ist dies die EU. Sollte sich Katalonien im
kommenden Jahr von Spanien abspalten, gibt es mit der EU einen
Rahmen, der verhindern könnte, dass Staatsgrenzen wieder zu Mauern
werden. Nämlich, wenn die neuen Staatsgebilde Bestandteile des
größeren, europäischen Ganzen blieben. Der Separatismus in Katalonien
und Schottland ist explizit proeuropäisch. Sollte Großbritannien die
EU verlassen, wird Schottland vermutlich Großbritannien verlassen, um
Mitglied der EU sein zu können.

Im vergangenen Jahr kam Europa nicht aus dem Krisenmodus heraus.
Bringt 2016 die Wende?

Dr. Lang: Nein. Ich vermute, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise
sich zwar nicht mehr dramatisch zuspitzt - sofern es keine Schocks
von außen gibt, etwa durch einen Abschwung in China -, dafür aber
chronisch wird. Es dürfte schwierig werden, die auch auf deutschen
Druck durchgesetzte, strenge Stabilisierungsarchitektur konsequent
durchzusetzen. Frankreich etwa investiert nach den Anschlägen
verstärkt in innere Sicherheit, will diese Ausgaben aber nicht im
Defizitverfahren angerechnet bekommen. Hinzu kommt: Sobald die Krise
nicht mehr akut ist, gerät die Notwendigkeit schmerzhafter
Strukturreformen aus dem Blick. Im Syrien-Krieg ist keine Lösung
absehbar. Die Flüchtlingsströme werden allenfalls durch besser
kontrollierte Grenzen runterreguliert. Was stärker in den Blick
geraten wird, sind die innenpolitischen Folgen der Zuwanderung, die
Kosten und der auflodernde Fremdenhass.  Völlig offen ist die
Entwicklung in der Ukraine. Ich glaube zwar nicht, dass der Kreml
nach der Ablenkung durch sein Engagement in Syrien zum großen Schlag
ausholt, weil er die Entschlossenheit des Westens wahrgenommen hat.
Dennoch behält er einen Fuß in der Ostukraine. Die multiplen Krisen
bleiben der Normalzustand.

Das Interview führte

Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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Datum: 23.12.2015 - 16:09 Uhr
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