(ots) - Ende 2010 rebellierte die arabische Welt gegen
ihre Despoten. Der Flächenbrand wurde zu einem historischen Schnitt -
mit weitreichenden Folgen. Nicht zuletzt entfliehen jetzt Millionen
den Kriegen, die seit der Arabellion toben. Der Nahost-Experte Prof.
Bassam Tibi ist pessimistisch: "So naiv die anfänglichen Hoffnungen
des Westens waren, so verfehlt ist seine Politik jetzt. Die EU lässt
sich von der Türkei vorführen und kann die Probleme vor Ort - etwa in
Syrien - nicht lösen."
Bürgerkriege im Jemen, Libyen und Syrien; enormer Zulauf für den
IS, Autokraten an der Macht: Wieso scheiterte der arabische Frühling?
Prof. Bassam Tibi: Zunächst müssen wir auf die Begrifflichkeit
achten. Der Begriff Bürgerkrieg ist hier nicht zutreffend. Bei einem
Bürgerkrieg kämpfen einzelne Individuen gegeneinander. Im Falle
Syriens, meiner Heimat, kämpfen aber religiös-ethnische Kollektive
gegeneinander.
...also ethnisch-religiöse Konflikte, die zudem noch
Stellvertreterkriege sind?
Prof. Tibi: Nein, es sind auch keine Stellvertreterkriege. Die
Sunniten in Syrien kämpfen nicht stellvertretend für Saudi-Arabien
und Syriens alawitische Schiiten sind keine Stellvertreter des Iran.
Das heißt im Umkehrschluss auch, dass der Krieg keinesfalls vor dem
Aus stehen würde, wenn man Teheran dazu bringen würde, sich für den
Frieden in Syrien einzusetzen.
Wo liegen die Ursachen für die bittere Ernte des arabischen
Frühlings?
Prof. Tibi: Nach dem Sturz despotischer Regime in Arabien war die
Hoffnung groß, dass sich die Länder demokratisieren. Allerdings
fehlten sämtliche Voraussetzungen für eine Demokratisierung:
kulturell, politisch und institutionell. Mit der Ausnahme von Ägypten
entstand nach dem Sturz der Autokraten ein Machtvakuum. Die
religiös-ethnischen Kollektive, die auf die Straße gingen, um die
Regime zu stürzen, waren sich untereinander nur in einem Punkt einig:
Das jeweilige verhasste Regime sollte weg. Ãœber alle anderen Punkte
war kein Konsens zu erzielen. Die einzige organisierte Kraft, die in
dieses Vakuum eindringen konnte, waren die Islamisten.
War der Westen naiv mit seinen Träumen von einer nachgeholten
Demokratisierung?
Prof. Tibi: Ich glaube ja. Hier erkennt man den Einfluss der USA,
genauer gesagt das Erbe des schlechtesten Präsidenten, den die USA je
hatten: George W. Bush. Seine Regierung wähnte sich auf einem
Kreuzzug für die Demokratisierung, nicht nur beim Feldzug gegen den
irakischen Diktator Saddam Hussein. Allerdings verstanden Bush und
seine Berater unter Demokratisierung nur Wahlen. Volksherrschaft ist
aber weit mehr als das. Die Demokratisierung Deutschlands nach der
nationalsozialistischen Diktatur gibt Fingerzeige, was zur Demokratie
gehört: Wahlen, entsprechende institutionelle Strukturen und eine
politische Kultur der gegenseitigen Akzeptanz. In Syrien
beispielsweise sind aber Alawiten und Sunniten weit davon entfernt,
sich gegenseitig zu tolerieren. Und nach 500 000 Todesopfern
bisher wird der Hass auch nicht allzu bald abebben. Ebenso fehlt es
an Institutionen, die eine Vermittlung bzw. Versöhnung zwischen den
verfeindeten religiös-ethnischen Kollektiven bewältigen konnten.
Würde Assad gestürzt, wird es eine sunnitische Kollektiv-Rache an den
Alawiten geben.
In Marokko und Tunesien ist die Stabilität etwas erhöht, weil
moderate islamische Parteien eingebunden wurden. Wie groß ist die
Gefahr, dass dies nun nicht mehr die abgehängten, sich
radikalsierenden Gruppen erreichen können?
Prof. Tibi: Islamisten gehen davon aus, dass ihr Glaube ihnen
auferlegt, für eine islamische Staatsordnung zu kämpfen. Das steht
aber weder im Koran noch in einer der autoritativen Quellen.
Islamisten politisieren den Islam mit dem Ziel der Errichtung eines
Scharia-Staates. Innerhalb der Islamisten gibt es zwei Strömungen.
Sie haben die eine "Moderate" genannt, ich nenne sie die
Institutionellen. Diese verzichten, anders als die dschihadistischen
Islamisten, auf Gewalt. Zudem sind sie bereit, Parteien zu bilden und
in Regierungen sowie Parlamenten mitzuarbeiten. Dschihadistische
Islamisten setzen dagegen auf Gewalt. In einem sind sich allerdings
beide Gruppen einig: Ihr Ziel ist der Scharia-Staat. Wenn also
moderate Islamisten auf demokratischem Wege an die Macht kommen, wie
etwa die Muslimbrüder in Ägypten, schaffen sie die Demokratie ab. Es
gibt nur zwei arabische Staaten, die eine echte Staats-tradition
haben: Marokko und Ägypten. Marokko ist die älteste noch existierende
Monarchie der arabischen Welt, sie existiert seit 1666. Anders als
den während der Kolonialära künstlich gebildeten Staaten Irak, Syrien
und auch Jemen droht Marokko kein Staatszerfall. Das langsame
Zerbröckeln der von den Kolonialmächten geschaffenen Staaten wird
sich nicht am Verhandlungstisch aufhalten lassen. Auch, weil es viel
zu viele Verhandlungspartner gibt. So gibt es etwa in Libyen 120
bewaffnete Milizen. Selbst wenn es der UNO gelingen sollte, die
miteinander verfeindeten Regierungen an einen Tisch zu bringen,
würden die Stämme jede Annäherung zu Fall bringen. Ein Titel des
marokkanischen Königs ist "Oberhaupt der Gläubigen". Das verschafft
ihm ebenso Legitimation wie die Unterstützung der Geistlichen etwa in
ihren Freitagsgebeten. Fordern dschihadistische Islamisten in Marokko
eine islamische Ordnung, kann der König antworten "L'islam c'est
moi!" Bei so wenig Spielraum in ihrer Heimat können sie nur im
Ausland in den Dschihad ziehen, etwa, indem sie sich dem IS
anschließen. In Tunesien ist die Lage etwas anders. Dort gibt es
sogar eine Zivilgesellschaft. So etwas suchen Sie in Marokko
vergebens. Es gibt eine breite Mittelklasse und Intelligenz. Und es
gibt eine Tradition des friedlichen Miteinanders. Nur so konnte es
passieren, dass die Islamisten die Macht nach der "Jasminrevolution"
in Wahlen erobern konnten und bei den nächsten Wahlen wieder verloren
ohne jegliche Putschgefahr. Das ist einzigartig in der islamischen
Welt. In Ägypten dagegen ließ sich Mursi als Präsident der
Muslimbrüder weder von drei Millionen Gegendemonstranten auf der
Straße noch vom Drängen der Militärs davon abbringen, das
Verfassungsgericht und die Pressefreiheit abzuschaffen, um den Staat
nach und nach in einen Gottesstaat zu verwandeln. Mit der jetzigen
Regierung Sisi ist die Mehrheit der Bürger zufrieden.
Droht genau deshalb eine Radikalisierung der Muslimbrüder?
Prof.Tibi: Ja. Es war bereits unter Sisi ein Fehler, die
Muslimbrüder als Terroristen zu verfolgen, denn sie sind
institutionelle Islamisten und verzichten auf Gewalt. Doch nachdem
Kairo sie verbot, gingen sie in den Untergrund und sind
dementsprechend nicht mehr zu kontrollieren. Die Muslimbrüder sind
eine sehr gefährliche Minderheit. Es wäre besser, sie beobachtbar im
Parlament sitzen zu haben und als Partei wirken zu lassen.
Hat Europa im arabischen Frühling irgendetwas richtig gemacht,
etwa bei der Demokratieförderung in Tunesien?
Prof. Tibi: In Tunesien hat sich der Westen richtig verhalten,
aber das war auch leicht. Tunesien ist eine Zivil- und keine
Stammesgesellschaft, noch dazu ohne konfessionellen Gegensatz wie
etwa in Syrien und dem Irak. Diktator Ben Ali beugte sich den
öffentlichen Protesten und verschwand. Er floh ins Exil mit etwa 100
Getreuen - das war alles. Hinter Assad in Syrien stehen dagegen die
Alawiten, 11 Prozent der Bevölkerung. Sie wissen, dass sie als
religiös-ethnisches Kollektiv mit Assad fallen würden. Nicht nur,
dass sie ihre privilegierten Positionen in der Gesellschaft verlieren
würden, sie müssten auch mit einer Nacht der langen Messer rechnen.
Lange galt die Türkei als Modell für eine Vereinbarkeit von Islam
und Demokratie. Gilt das noch?
Prof. Tibi: Ein Reformislam ist vereinbar mit der Demokratie,
sofern er sich nur an islamischer Ethik orientieren will und davon
absieht, einen islamischen Staat schaffen zu wollen. Auch wenn es in
Deutschland nicht populär ist, das zu sagen, ist die AKP des
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine islamistische
Partei, keine islamisch-konservative, wie sie oft in den Medien
falsch etikettiert wird. Die Frage müsste vielmehr lauten, ob die AKP
und die Demokratie vereinbar sind. Und da habe ich angesichts von 165
inhaftierten Journalisten ohne Gerichtsverhandlung und vielen
Richtern und Staatsanwälten unter Druck so meine Zweifel. Das ist ein
autoritäres Regime, wie sich nach der Wahl bestätigte. Verliert eine
Regierungspartei in Westeuropa die Mehrheit, sucht sie sich
Koalitionspartner. Die AKP erklärte stattdessen den Kurden den Krieg,
um wieder eine absolute Mehrheit zu erhalten und die gewählte
Kurdenpartei zu inkriminieren.
Ist es ein Armutszeugnis für die EU, in der Flüchtlingskrise auf
die Türkei zu hoffen?
Prof. Tibi: Auf jeden Fall. Zwar ist die Türkei von allen 57
Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung das mit Abstand am
besten entwickelte. Aber Erdogan hat selbstverschuldet viele
innenpolitische Probleme, etwa den Krieg mit den Kurden, die Kluft
zwischen Stadt und Land sowie zwischen Weltlichen und Religiösen, von
denen er jetzt ablenken kann. Erdogan ist ein kluger Fuchs, der in
der Flüchtlingskrise mit Kanzlerin Merkel spielt - ohne dass sie das
merkt. Erdogan kann die EU um Geld und Zugeständnisse erpressen, so
dass er seine Krise überstehen wird. Das geschieht bereits als
Politik.
Wie groß ist die Gefahr, dass der sunnitisch-schiitische Gegensatz
zu einem dreißigjährigen Religionskrieg ausartet?
Prof. Tibi: Schon der Vergleich mit dem Dreißigjährigen Krieg
bedeutet eine Verniedlichung. Das Schisma, also die Spaltung in
Sunniten und Schiiten, vollzog sich 661. Seitdem haben beide
Glaubensrichtungen nirgendwo in der Welt friedlich miteinander
gelebt. Ändern könnte sich das nur, wenn der Islam eine Reformation
erleben würde wie das Christentum. Lange haben sich beide nicht nur
abgelehnt, sondern auch bekämpft. Mittlerweile sitzt der Hass so
tief, dass die Gewalt noch dunkle Auswüchse nach sich ziehen kann,
die sich der menschliche Geist nicht vorstellen mag. Deshalb greift
auch Frau Merkels Ansatz nicht, die Krise in Nahost vor Ort lösen zu
wollen, weil man die europäischen Grenzen nicht kontrollieren kann.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie Syrien und Libyen so stabilisiert
werden können, dass der Impuls zu flüchten nachlässt. In beiden
Ländern ist der Staatszerfall so fortgeschritten, dass andere
Lösungen - so in Syrien - als Stabilisierung erforderlich sind.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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