(ots) - Zur Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel,
Strafermittlungen gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann wegen
Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan
zuzulassen, erklärt der Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen,
Michael Rediske:
"Die Entscheidung der Bundeskanzlerin ist unglücklich und unnötig.
Das Verfahren nach dem Majestätsbeleidigungs-Paragrafen ermöglicht
eine höhere Strafe als bei einer einfachen Beleidigung. Das ist ein
Wink in die falsche Richtung. Alles Weitere liegt nun bei der Justiz
und damit dort, wo es hingehört.
Dass die Bundesregierung endlich den antiquierten und
überflüssigen Strafrechtsparagraf 103 abschaffen will, ist zu
begrüßen. Besser wäre es gewesen, schon jetzt auf seine Anwendung zu
verzichten und Erdogan damit auf seinen schon gestellten Strafantrag
als einfacher Bürger zu verweisen.
Entscheidend wird jetzt sein, dass der Bundestag tatsächlich zügig
die Majestätsbeleidigung aus dem deutschen Strafrecht streicht. Sonst
könnten sich Autokraten von China bis Aserbaidschan jetzt eingeladen
fühlen, gegen kritische Journalisten und Satiriker vor deutsche
Gerichte zu ziehen - und sich im eigenen Land mit Sonderrechten gegen
kritische Medien zu immunisieren. Wenn die Affäre Böhmermann zu mehr
Aufmerksamkeit für die Verfolgung von Journalisten in Ländern wie der
Türkei beiträgt, könnte sie am Ende sogar etwas Gutes bewirken."
STARKER ANSTIEG VON KLAGEN WEGEN BELEIDIGUNG DES PRÄSIDENTEN IN
DER TÃœRKEI
Reporter ohne Grenzen kritisiert seit Langem die juristische
Verfolgung von Journalisten in der Türkei unter anderem aufgrund von
Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuches, der für Beleidigung des
Präsidenten mehrjährige Gefängnisstrafen vorsieht
(http://t1p.de/cmye). Unter Präsident Erdogan ist dieses Delikt in
jüngster Zeit zur häufigsten Anschuldigung gegen Journalisten neben
"terroristischer Propaganda" geworden (http://t1p.de/v96c). Allein
2015 wurden in der Türkei 19 Journalisten und zwei Karikaturisten
wegen Beleidigung des Präsidenten zu Haft- oder Geldstrafen
verurteilt; 2014 gab es nur zwei derartige Urteile. Bislang ist
allerdings keiner der Verurteilten in Haft, weil ihre
Berufungsverfahren noch nicht entschieden sind.
Potenziell schwerer für die Betroffenen wiegen Terror-Vorwürfe:
Aktuell drohen etwa Chefredakteur Can Dündar und Hauptstadtbüroleiter
Erdem Gül von der Tageszeitung Cumhuriyet aufgrund ihrer
Berichterstattung lebenslange Haftstrafen. Die Staatsanwaltschaft
wirft ihnen Spionage, Verbreitung von Staatsgeheimnissen und
Unterstützung einer terroristischen Organisation vor.
Ende Mai 2015 hatte ihre Zeitung Belege für eine Beteiligung des
türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in
Syrien veröffentlicht. Daraufhin drohte Präsident Erdogan im
staatlichen Fernsehen, Chefredakteur Dündar werde einen hohen Preis
für die Veröffentlichung bezahlen und nicht ungestraft davonkommen
(http://t1p.de/p1eq). Der Prozess gegen Dündar und Gül begann Ende
März und wird in einer Woche fortgesetzt.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz
149 von 180 Staaten. Weitere Informationen zur Lage der
Pressefreiheit dort finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei/. Der jüngste
Türkei-Länderbericht von Reporter ohne Grenzen steht unter
http://t1p.de/g9ns zum Download bereit.
Online-Petition für die Einstellung des Verfahrens Can Dündar und
Erdem Gül: www.reporter-ohne-grenzen.de/dündar-gül/
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse/
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29