(ots) - Die Fronten zwischen der EU und der Türkei sind
verhärtet. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft Europa
Versäumnisse in der Terrorbekämpfung vor. EU-Parlamentspräsident
Martin Schulz sieht derzeit keine Chance für die Visafreiheit. Dr.
Oliver Ernst, Türkeiexperte der Konrad-Adenauer-Stiftung vermisst im
Westen die Bereitschaft, sich in die türkische Lage
hineinzuversetzen.
Die Affäre um das Böhmermann-Schmähgedicht schlug hierzulande
größere Wellen als Hunderte ähnliche Klagen gegen türkische Künstler
oder Inhaftierungen türkischer Wissenschaftler. Hat es somit
wenigstens den Fokus der Öffentlichkeit auf eine oft übersehene Seite
der Türkei gerichtet?
Dr. Oliver Ernst: In der aktuellen Diskussion hierzulande wird oft
vernachlässigt, wie lang und einflussreich die Tradition politischer
Satire in der Türkei ist. Erdogan und die türkische Politik werden
auch dort sehr scharf kritisiert. Türkische Satirezeitungen
beispielsweise sind populär und weit verbreitet und nutzen ihre
kreativen, journalistischen Spielräume trotz des Drucks gegen Medien
weit aus.
Lotet Erdogan mit seinen Attacken gegen Künstler im Westen - etwa
gegen solche, die vom Genozid an den Armeniern sprechen - aus, wie
groß seine Macht gegenüber Europa ist?
Dr. Ernst: Erdogan und die AKP-Regierung sehen sich hier ja auch
einer lebendigen nationalen Debatte zu diesem Thema gegenüber: Die
Vertreibungen und Ermordungen der im Osmanischen Reich lebenden
Armenier vor 100 Jahren werden seit etwa zehn Jahren auch in der
Türkei sehr kontrovers diskutiert. Es gibt in der Türkischen
Nationalversammlung sogar armenischstämmige Abgeordnete, die das
Thema offen ansprechen und offensiv eine Aufarbeitung fordern. Diese
ansatzweise gesellschaftliche Liberalisierungstendenz sorgt aber
dafür, dass das einstige Tabu-Thema nicht nur intensiver diskutiert
wird, sondern durch die öffentliche Debatte - insbesondere im
nationalistischen Lager - die Emotionen stärker hochkochen. Schon vor
zehn Jahren - im Jahr 2005 sorgte ein Bundestagsbeschluss zum
Armenier-Thema für starke Verstimmungen zwischen Deutschland und der
türkischen Regierung. Diese Situation droht sich zu wiederholen, weil
der Bundestag am 2. Juni dazu erneut einen Beschluss fassen will. Die
offizielle Türkei lehnt die Befassung nationaler Parlamente anderer
Staaten mit dem Thema ab und möchte die Aufarbeitung der historischen
Ereignisse grundsätzlich aus der politischen Diskussion heraushalten.
Sind die Spionageprozesse gegen Regierungskritiker als politische
Schauprozesse zu begreifen? Immerhin hatte das Verfassungsgericht die
Festnahme etwa von Erdem Gül und Can Dündar als nicht rechtens
eingestuft.
Dr. Ernst: Hier muss man vorausschicken, dass es schon nach der
Erstürmung des türkischen Generalkonsulats im irakischen Mossul und
der damaligen Geiselnahme von über 40 Konsulatsangehörigen durch den
IS im Juni 2014 eine Nachrichtensperre gab und die
Medienberichterstattung seitdem in der Türkei immer schwerer geworden
ist. Auf der anderen Seite ist aber auch die Verletzbarkeit der
Türkei durch Terroristen gerade im Kontext der Syrienkrise weiter
extrem angestiegen, was die in jüngster Zeit mutmaßlich vom IS
ausgeübten Anschläge deutlich gemacht haben - die schwersten
Attentate in der Geschichte der Türkei. Der Konflikt zwischen der
regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet und der Regierung ist zudem
ein sehr grundsätzlicher. Er geht weit über den verhandelten Fall des
Berichts über vermeintliche türkische Waffenlieferungen an
dschihadistische Milizen in Syrien hinaus. Es ist ein Konflikt über
den Umgang mit der Krise in Syrien generell, mit dem Regime Assad und
mit den sunnitischen Milizen. Die türkische Gesellschaft ist in der
Haltung zum Syrienkrieg und zum Assadregime zutiefst gespalten: Eine
Hälfte unterstützt die mit allen Mitteln den Sturz Assads anstrebende
Politik der AKP, die andere steht in sehr starker Opposition hierzu.
Dient der vorübergehende Entzug der Immunität von dutzenden
Abgeordneten der Ausgrenzung der kurdischen HDP und der Erlangung
einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, um den Weg in eine andere
Republik beschreiten zu können?
Dr. Ernst: Zumindest teilweise ist dies so. Politisch noch
wichtiger ist aber wohl der Aspekt, dass die HDP aus Sicht der
Regierung eine sehr große Affinität zur PKK aufweist und den Terror
als "Befreiungskampf" glorifiziert. Sie wird daher schon lange von
der AKP als parlamentarisches Sprachrohr der terroristischen PKK
diffamiert. Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, da die Türkei seit
nun fast einem Jahr wieder Krieg gegen die PKK führt. Deshalb ist das
harte Vorgehen gegen die HDP eher unter den Anti-Terror-Kampf
einzuordnen als unter die Bestrebungen, eine Präsidialdemokratie zu
installieren.
Ankara stand kurz vor der ersehnten Visafreiheit. Wird diese nun
auf dem Altar der Terrorbekämpfung geopfert?
Dr. Ernst: Nach derzeitiger Rechtslage wird journalistische oder
politische Arbeit oft als Unterstützung des PKK-Terrors geahndet -
daher hat die EU die Änderung des Anti-Terror-Gesetzes zu einer
wichtigen Voraussetzung für die Visabefreiung gemacht. Hiergegen
wehrt sich Erdogan und die türkische Regierung nun vehement, obwohl
man diesem, wie auch den 71 anderen Bedingungen zuvor zugestimmt
hatte. Dieser Kontext besteht schon seit längerer Zeit: Der Krieg
gegen den Terror im Südosten der Türkei hat zu erheblichen
Vertreibungen beigetragen. Schon jetzt leben in Deutschland
900 000 Kurden aus der Türkei. Aus europäischer Perspektive ist
daher eine Rückkehr zum Friedensprozess immens wichtig. Ich glaube
aber nicht, dass die Verhandlungen zur Visafreiheit auf Dauer ad acta
gelegt werden. Kaum noch zu halten ist lediglich der Juni-Termin.
Wird sich die kurdische Fluchtbewegung steigern, falls es nicht
gelingt den Krieg einzudämmen?
Dr. Ernst: Die PKK führt ihren bewaffneten Kampf seit 1984.
Seitdem haben wir die Erfahrung gemacht, dass mit der Schneeschmelze
in den südostanatolischen Bergen die Kampfhandlungen massiv zunehmen.
So ist es auch jetzt, verschärft dadurch, dass die PKK in den
syrischen Kurdengebieten neue Rückzugsräume gewonnen hat. Der
PKK-Terror und der Krieg gegen die PKK werden die Flüchtlingsströme
anschwellen lassen. Bereits jetzt sind die Asylbewerberzahlen aus der
Türkei sehr hoch. Und sie könnten weiter ansteigen - mit allen
negativen Konsequenzen für das Verhältnis von EU und Türkei.
Wollte Davutoglu den Weg in die Präsidialdemokratie nicht
mitgehen?
Dr. Ernst: Davutoglu war nicht nur als Ministerpräsident zu stark
geworden, er gilt auch als Gegner eines derartigen Systemwechsels.
Das schlechte Abschneiden der AKP bei den Wahlen im Juni 2015 war
auch damit erklärt worden, dass Erdogan im Wahlkampf die
Präsidialdemokratie zum Hauptthema gemacht hatte. Bei den Neuwahlen
im November hatte Davutoglu hierauf verzichtet und die AKP hatte
daraufhin erheblich zugelegt.
Wird Erdogan eine Art dynastische Lösung anstreben, indem er
seinen Schwiegersohn zum Premier macht?
Dr. Ernst: Sein Schwiegersohn, Energieminister Berat Albayrak, ist
in der AKP äußerst beliebt. Im aktuellen Bewerberfeld dürfte er auf
dem Sonderparteitag am 22. Juni die besten Chancen haben.
Hat sich Europa mit dem Flüchtlingspakt in die Hand Erdogans
begeben und somit keine Handhabe mehr, gegen den Abbau demokratischer
Rechte zu protestieren?
Dr. Ernst: Wie die aktuelle Diskussion um Visafreiheit und
Terrorbekämpfung zeigt, werden die Europäer nicht aufhören, die
innere Entwicklung der Türkei kritisch zu begleiten. Aber der
Syrien-Konflikt ist sehr viel stärker mit der Flüchtlingsbewegung
verknüpft als die innenpolitische Entwicklung der Türkei. In dem Land
haben 2,7 Millionen Syrer Zuflucht gefunden. Europa und die Türkei
müssen in jedem Fall noch stärker bei der Lösung der Krise zusammen
arbeiten.
Würde Europa mehr Einfluss haben, wenn es die Türkei zu einem
echten Beitrittskandidaten erhebt, weil es dann auch freiheitliche
Standards vorgeben könnte?
Dr. Ernst: Bei der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, die zu
den wichtigsten Beitrittsvoraussetzungen zählen, zu denen sich Ankara
ja auch bekannt hat, geht es auch um die Abgabe von
Souveränitätsrechten. Ich bezweifle jedoch, dass angesichts der
aktuell sehr konfrontativen Situation eine Chance besteht, mit Ankara
über diese Herausforderungen zu verhandeln. Die Türkei sieht sich
durch den Syrien-Krieg und den Krieg gegen die PKK in einer
Bedrängnis, die ihre Energien nahezu komplett fordert. Der
EU-Beitritt ist daher in der Türkei fast zum Neben-Schauplatz
geworden. Schaffen wir es nicht, die Türkei bei den
sicherheitspolitischen und außenpolitischen Krisen zu stützen, dann
würde das die negativen Trends in der innenpolitischen Entwicklung
der Türkei noch verstärken. Der Westen muss - bildlich gesprochen -
ein Stück des Weges in den Schuhen der Türken gehen, um zu spüren,
auf welch heißen Kohlen Ankara tatsächlich wandelt. Die Europäer
haben davon bisher nur eine schwache Ahnung.
Das Interview führte Joachim Zießler
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