(ots) - Ende der Illusionen
Raimund Neuß zur deutschen Türkei-Politik
Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin waren eine Zeit lang
Intimfeinde, jetzt verstehen sie sich wieder besser, und an sich sind
sie Brüder im Geiste: formal demokratisch gewählte Präsidenten, die
autoritär regieren und sich auf einen religiös-chauvinistisch
verhetzten Mob stützen.
Es gibt eigentlich nur zwei Unterschiede: So ungeniert, wie
Erdogan jetzt mit Massenverhaftungen, Massenentlassungen und
Ausreisesperren agiert, hat es Putin nie getrieben. Und: Erdogans
Türkei gehört der Nato - einem Bündnis demokratischer Staaten - an
und ist der EU als Kandidatenstaat verbunden.
Umso größer ist das Entsetzen darüber, was unser vermeintlicher
Partner unter dem Deckmantel von Putschistenbekämpfung, Terrorabwehr
und Ausnahmezustand treibt. Die Überraschung wäre allerdings nicht
ganz so groß, wenn es früher nicht so große Illusionen gegeben hätte.
Erdogans Partei AKP war nie wie erhofft eine islamische CDU, und die
viel gelobte Synthese von westlicher Demokratie und islamischer
Tradition war stets brüchig. Nur vier Militärputsche und eine
Putschdrohung - auch das keine demokratischen Aktionen - haben in der
Vergangenheit die Errichtung eines islamistisch-autoritären Systems
verhindert, wie es jetzt Gestalt annimmt. Unter sozialistischen oder
konservativen Regierungen wurden ethnische und religiöse Minderheiten
oft schlimmer misshandelt als jetzt unter Erdogan.
Erdogans Staatsstreich von oben sollte daher Anlass sein, naive
Träume über eine EU-Idylle in Ostanatolien aufzugeben und zu einer
realistischen Türkei-Politik überzugehen. Auch mit dem Despoten in
Ankara müssen wir (wie mit dem Despoten in Moskau) zusammenarbeiten.
Kaum auszudenken, was geschähe, wenn Erdogan die IS-Terrormiliz
wieder im alten Stil gewähren ließe, was ihm sicher einige
Terroranschläge im eigenen Land ersparen würde. Deshalb wäre ein
Abzug deutscher Soldaten aus Incirlik fehl am Platze, so schwer es
fallen mag, die Zähne zusammenzubeißen.
Aber wir sollten prinzipienfest bleiben. Die Türkei bestimmt durch
ihren Umgang mit den Menschenrechten selbst über ihre Nähe zur EU.
Versuche der AKP, Konflikte in Westeuropa zu schüren, sind angemessen
zu beantworten - so wie es Österreich mit der Einbestellung des
türkischen Botschafters getan hat. SPD und Grüne sollten den Gedanken
einer doppelten deutsch-türkischen Staatsbürgerschaft aufgeben. Sie
würde für ihre Träger zu ausweglosen Konflikten führen. Man kann
nicht zugleich gegenüber einem demokratischen Rechtsstaat und einem
autoritären Regime loyal sein. Wir sollten uns auch von der Idee
verabschieden, der deutschen Residentur der türkischen
Religionsbehörde einen kirchenähnlichen Status zuzuerkennen. Vielmehr
sollten wir deutsche Imame und Islamkundelehrer fördern, um eine
Alternative zu Erdogans Theologen zu schaffen.
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