(ots) - Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 2016 ist im
Gastgeberland Brasilien der dritte Journalist in diesem Jahr ermordet
worden. João Miranda do Carmo betrieb im Bundesstaat Goiás eine
lokale Nachrichtenwebseite, auf der er oft über Regierungskorruption
und Behördenversagen berichtete. Der Fall ist bezeichnend für
Brasilien, das seit Jahren zu den Staaten Lateinamerikas gehört, in
denen die meisten Medienschaffenden ermordet werden
((http://t1p.de/78c0)). Daneben behindern Medienkonzentration und
politische Einflussnahme auch drei Jahrzehnte nach dem Ende der
Militärdiktatur noch immer einen unabhängigen Journalismus.
"Dieser feige Mord erinnert in drastischer Weise daran, wie
gefährlich für Journalisten die tiefsitzende Kultur der
Straflosigkeit für Gewalttaten in Brasilien ist. Polizei und Justiz
müssen die Täter und Auftraggeber schnell finden und zur Rechenschaft
ziehen", sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen,
Christian Mihr. "Die brasilianische Regierung sollte dringend einen
Warn- und Schutzmechanismus für bedrohte Journalisten schaffen, um
der Gewalt und dem Justizversagen in vielen Landesteilen etwas
entgegenzusetzen."
Nicht zuletzt wegen der konstant hohen Zahl von Drohungen und
Gewalt gegen Journalisten steht Brasilien nur auf Platz 104 von 180
auf der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne
Grenzen. Allein 2015 wurden dort sieben Journalisten ermordet. 2012
erreichte diese Zahl ihren bisherigen Höchststand von elf; fünf der
Morde standen eindeutig im Zusammenhang mit der journalistischen
Tätigkeit der Opfer.
Die Opfer sind meist Journalisten, die über Tabu-Themen wie
Korruption oder organisierte Kriminalität recherchiert haben. Die
Täter werden nur selten bestraft. Hinter den Gewalttaten und verbalen
Anfeindungen stecken oft lokale Politiker oder Behörden; andere Taten
sind offenbar als Rache für kritische Berichte über Verbrechen oder
Polizeigewalt zu verstehen. Besonders in ländlichen Gebieten können
Verbrecherbanden oft damit rechnen, ungestraft davonzukommen. Auch
vor Wahlen häufen sich immer wieder Drohungen und Angriffe.
Um dem in vielen Ländern stagnierenden Kampf gegen Straflosigkeit
für Gewaltverbrechen an Journalisten neue Impulse zu geben, setzt
sich Reporter ohne Grenzen derzeit intensiv für die Schaffung eines
UN-Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalisten ein. Er sollte
direkt dem UN-Generalsekretär unterstehen und die Befugnis zu
eigenständigen Untersuchungen haben, wenn Staaten nach Gewalttaten
gegen Journalisten nicht ermitteln (http://t1p.de/gd94).
ERMORDET MIT SIEBEN SCHÃœSSEN
Der nun im Alter von 54 Jahren ermordete Carmo war Betreiber und
Chefredakteur der Webseite SAD Sem Censura ("SAD unzensiert",
www.sadsemcensura.com) in der Kleinstadt San Antônio do Descoberto
nahe Brasilia. Er hatte der Polizei mehrmals von Drohungen im
Zusammenhang mit seiner journalistischen Arbeit berichtet. Am
vergangenen Sonntag fuhren Unbekannte mit einem Auto vor seinem Haus
vor, gaben sieben Schüsse auf ihn ab und entkamen unerkannt
(http://t1p.de/ibbc). Die Polizei hatte zunächst keine eindeutige
These zu den Hintergründen der Tat und schloss einen Zusammenhang mit
der journalistischen Tätigkeit Carmos nicht aus.
Reporter ohne Grenzen geht bei Carmo wie auch bei den beiden
anderen seit Jahresbeginn ermordeten Journalisten von einem
Zusammenhang mit ihrer Arbeit aus: Am 9. April wurde im Bundestaat
Maranhão der 46-jährige Blogger Manoel Messias Pereira
(Sediverte.com) mit sechs Schüssen ermordet. Am 10. März überfielen
zwei Unbekannte im Bundestaat Paraná den 51-jährigen Radiomoderator
João Valdecir de Borba (Radio Difusora AM) und erschossen ihn in
einem Nebenraum seines Studios (http://t1p.de/jzm4). Mindestens zwei
weitere Journalisten überlebten ähnliche Mordanschläge.
Vor dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Turbulenzen der vergangenen Monate hat die Gewalt gegen Journalisten
in Brasilien zugenommen. Immer wieder geht die Militärpolizei bei
Demonstrationen gewaltsam gegen Reporter vor. Einheimische wie
ausländische Journalisten müssen bei Straßenprotesten mit
Beschimpfungen, Drohungen und willkürlichen Festnahmen rechnen. Auch
Demonstranten reagieren immer wieder feindselig auf Reporter, die sie
mit den politischen Tendenzen der jeweiligen Medienhäuser
identifizieren.
Im Frühjahr 2014 empfahl das Menschenrechtssekretariat der
brasilianischen Präsidentschaft gemeinsam mit der Unesco die Gründung
einer Arbeitsstelle, die Gewalt gegenüber Journalisten beobachten
sollte. Auch solle der Regierung die Zuständigkeit für die Aufklärung
von Verbrechen an Journalisten übertragen werden. Eine entsprechende
Gesetzesvorlage wurde jedoch im Mai 2015 vom Parlament abgelehnt
(http://t1p.de/plaa).
"COLONELS" VEREINEN WIRSCHAFTLICHE, POLITISCHE UND MEDIALE MACHT
Das andere große Problem sind die Medienbesitzstrukturen in
Brasilien: In vielen Regionen des Landes gibt es sogenannte Colonels
- Industrielle oder Großgrundbesitzer, die zugleich politische Ämter
bekleiden und oft mehrere regionale Medien direkt oder indirekt
kontrollieren. Dadurch können sie zugunsten ihrer eigenen politischen
und geschäftlichen Interessen starken Einfluss auf die öffentliche
Meinungsbildung nehmen. Zum Beispiel kontrollieren schätzungsweise
rund 40 Parlamentsabgeordnete und Senatoren mindestens einen Radio-
oder Fernsehsender in ihrem jeweiligen Heimat-Bundesstaat, obwohl
eine solche Konstellation laut Verfassung verboten ist.
Im Zuge des Streits um die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma
Rousseff wurden die Folgen dieser Interessenverquickung deutlich:
Führende überregionale Medien ergriffen in kaum verhüllter Weise
Partei gegen Rousseff; die Journalisten dieser Medien stehen unter
Druck, die privaten und politischen Interessen der jeweiligen
Eigentümer zu vertreten (http://t1p.de/wxb9). Einer dieser "Colonels"
ist etwa der langjährige Gouverneur und heutige Senator von Minas
Gerais, Aécio Neves, der bei der Präsidentenwahl 2014 gegen Rousseff
antrat. Er selbst, seine Mutter und seine Schwester halten Anteile an
dem Radiosender Arco Iris in der Hauptstadt des Bundesstaats, Belo
Horizonte. Anderen Familienmitgliedern gehören weitere Medien.
Schon bei den 2013 begonnenen Sozialprotesten des "brasilianischen
Frühlings" war die Berichterstattung wichtiger traditioneller Medien
in die Kritik gekommen, weil viele der Demonstrierenden in ihnen
Repräsentanten des politischen Systems sahen. Seit Reporter ohne
Grenzen diese Problematik im selben Jahr in dem Länderbericht "Das
Land der 30 Berlusconis" beschrieb, hat sich an der Lage nichts
gebessert.
Weitere Informationen über die Lage der Medien in dem Land finden
Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/brasilien sowie im
Länderbericht "Das Land der 30 Berlusconis" (Download unter
http://t1p.de/zg7t). Mehr zum Kampf gegen Straflosigkeit für
Verbrechen an Journalisten finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/themen/straflosigkeit/.
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Ulrike Gruska / Christoph Dreyer
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