(ots) - Vor der Wahl zum Legislativrat in Hongkong am
kommenden Sonntag fordert Reporter ohne Grenzen (ROG) die Behörden
der chinesischen Sonderverwaltungszone zu einer Kehrtwende in der
Medienpolitik auf. Zensur, willkürliche Lizenzvergaben und die
Benachteiligung unliebsamer Medien haben zu einem stetigen Verfall
der Pressefreiheit geführt. Immer deutlicher werden die Versuche der
chinesischen Regierung sichtbar, die einst für ihre Unabhängigkeit
bekannten Medien der früheren britischen Kronkolonie unter Kontrolle
zu bringen. In einem ausführlichen Länderbericht ist ROG jetzt der
Frage nach der Verantwortung für die zunehmende Repression
nachgegangen.
"Die Selbstzensur in Hongkongs Medien entsteht nicht im luftleeren
Raum: Medieneigentümer, Chefredakteure und wichtige Anzeigenkunden
schaffen ein Klima der Einschüchterung gegen kritische Journalisten",
sagte ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske. "Aber die
Hauptverantwortung für die Repressalien liegt bei der politischen
Führung in Peking, deren unsichtbare Hand immer öfter in Hongkonger
Redaktionen hineinregiert."
Immer mehr wichtige Medien stehen unter Kontrolle der chinesischen
Regierung oder KP-naher Unternehmer, Besitzer und Chefredakteure
werden durch politische Ämter kooptiert, Zeitungen und Fernsehsender
lassen sich für chinesische Propagandazwecke instrumentalisieren.
BESCHLEUNIGTER VERFALL DER PRESSEFREIHEIT
Bei der Einführung der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit von
Reporter ohne Grenzen im Jahr 2002 stand Hongkong noch auf Platz 18
von damals 139 bewerteten Ländern. Heute erreicht es nur noch Platz
69 von 180 Staaten und Territorien. Der Hongkonger
Journalistenverband HKJA gab in seinem letztjährigen Jahresbericht
unter Berufung auf eine Umfrage unter seinen Mitgliedern an, die
Journalisten der Sonderverwaltungszone bewerteten das Niveau der
Selbstzensur auf einer Skala von eins (sehr selten) bis zehn (sehr
häufig) mit durchschnittlich sieben. Als besonders heikel gelten
kritische Veröffentlichungen über die Regierung in Peking oder über
große heimische Unternehmen.
Der Verfall der Medienfreiheit hat sich seit 2012 beschleunigt -
dem Jahr, in dem in Peking Xi Jinping an die Spitze der
Kommunistischen Partei aufstieg. Hongkongs Journalisten ist seitdem
wenig erspart geblieben: Redakteure wurden aus politischen Motiven
kaltgestellt oder gekündigt, Artikel zensiert oder auf den hinteren
Zeitungsseiten versteckt, mehrere Medien an Peking-freundliche
Investoren verkauft. Hinzu kommen rückläufige Anzeigenumsätze und
Einflussnahme durch Hongkongs Politiker. Eingriffe in die
redaktionelle Unabhängigkeit sind an der Tagesordnung.
Unter dem Titel "Die unsichtbare Hand auf Hongkongs Medien"
(http://t1p.de/5uvu) lenkt der nun veröffentlichte ROG-Länderbericht
den Blick auf die Männer und Frauen, deren konkrete Entscheidungen
das vermeintlich abstrakte Phänomen Selbstzensur hervorbringen.
ALLTÄGLICHE ZENSUR, BEHÖRDENDRUCK, DROHUNGEN UND ANGRIFFE
So feuerte vergangenen April die Tageszeitung Ming Pao
überraschend ihren stellvertretenden Chefredakteur Keung Kwok-yuen -
nur Stunden, nachdem das Blatt im Zuge der internationalen
Enthüllungen der "Panama Papers" über Offshore-Firmen zweier
Hongkonger Regierungsmitglieder berichtet hatte. Proteste der
Redaktion blieben erfolglos (http://t1p.de/uspr). Interne Zensur ist
bei Ming Pao alltäglich geworden, seit Anfang 2014 Chefredakteur
Kevin Lau gegen den Widerstand der Redaktion durch den KP-treuen
Chong Tien-siong ersetzt wurde. Dessen Gefolgsmann Lui Ka-ming
stoppte im Juli 2014 sogar die Druckerpressen, um einen Text über die
Pro-Demokratie-Demonstrationen in Hongkong von der Titelseite zu
werfen.
Der geschasste Chefredakteur Lau wiederum wurde kurz nach seiner
Entlassung bei einem Angriff mit einem Fleischermesser schwer
verletzt. Zwar wurden inzwischen zwei Männer als Täter verurteilt,
doch über ihre Motive haben sie niemals Auskunft gegeben, und das
Gericht bewertete die Tat nicht als Angriff auf die Pressefreiheit.
Der private Radiosender Commercial Radio Hong Kong erhielt seit
2013 immer wieder Warnungen der Regierung wegen seiner politischen
Berichterstattung - nicht zuletzt von Verwaltungsschef CY Leung
persönlich. Im November 2013 nahm der Sender schließlich auf Druck
der für die Lizenzvergabe zuständigen Kommunikationsbehörde die
Sendung von Star-Moderatorin Li Wei-ling aus dem Programm und entließ
Li drei Monate darauf.
Die Peking-kritische Zeitung Apple Daily und ihr Eigentümer Jimmy
Lai sind immer wieder Ziele tätlicher Angriffe,
Einschüchterungsversuche und Drohungen, aber auch wirtschaftlichen
Drucks. So kündigten Ende 2013 vier Banken - HSBC und Standard
Chartered sowie die in Hongkong ansässige Bank of East Asia und die
HSBC-Tochter Hang Seng Bank - ihre langjährigen Werbeverträge, womit
dem Blatt auf einen Schlag ein Großteil seiner Anzeigeneinnahmen
wegbrach.
Nach Zählung des Journalistenverbands HKJA haben die Regierung in
Peking oder chinesische Konzerne inzwischen die direkte Kontrolle
oder Anteile an acht der 26 wichtigsten Hongkonger Medien
(http://t1p.de/z3zw - PDF, S. 6). Die Eigentümer oder Chefredakteure
von mehr als der Hälfte der führenden Hongkonger Medien sollen
politischen Gremien in China wie dem Nationalen Volkskongress oder
der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes
angehören.
ANZEICHEN FÃœR WACHSENDEN EINFLUSS PEKINGS
Auch in jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen für einen
wachsenden Einfluss der chinesischen Regierung. Im Juli erregte etwa
die Zeitung South China Morning Post (SCMP) mit einem
Exklusivinterview Aufsehen, in dem sich eine soeben aus fast
einjähriger Geheimhaft in China aufgetauchte Menschenrechtsaktivistin
reuevoll über ihren früheren "Irrweg" zeigte - noch bevor es ihrem
Mann und ihrem Anwalt gelang, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Kritiker
sind überzeugt, die Zeitung habe sich von den chinesischen Behörden
als Propagandaorgan für eines der erzwungenen "Geständnisse"
einspannen lassen, die unter Xi Jinping in Chinas Staatsmedien
gängige Praxis geworden sind (http://t1p.de/0yqn).
Das 1903 gegründete, einst als journalistisches Flaggschiff
gerühmte Traditionsblatt SCMP durchlebt seit einem Wechsel in der
Chefredaktion 2012 ein langsames Siechtum. Seit der
milliardenschwere, als regimetreu geltende chinesische
Internet-Unternehmer Jack Ma durch einen Deal vom vergangenen
Dezember Eigentümer der Zeitung wurde, sind die Zweifel an ihrer
Unabhängigkeit weiter gewachsen. Top-Manager von Mas Konzern Alibaba
haben zu Protokoll gegeben, sie wollten mit der Zeitung ein
Gegengewicht zu einer negativen Wahrnehmung Chinas in den westlichen
Medien setzen.
Anfang August veröffentlichten die Zeitung Oriental Daily News und
der Fernsehsender Phoenix Interviews mit einer zuvor monatelang von
den chinesischen Behörden verschleppten Menschenrechtsanwältin, die
unter ähnlich suspekten Umständen wie das umstrittene SCMP-Interview
zustande kamen. Phoenix TV hatte im Februar schon die offensichtlich
erzwungenen "Geständnisse" mehrerer Hongkonger Buchhändler und
Verleger gezeigt, die ebenfalls von chinesischen Sicherheitsbehörden
verschleppt worden und erst nach Monaten in chinesischem
Polizeigewahrsam aufgetaucht waren (http://t1p.de/858d;
http://t1p.de/q52s).
HAFTSTRAFEN FÃœR VERSAND EINES HONGKONGER MAGAZINS NACH CHINA
Ende Juli verurteilte ein Gericht im chinesischen Shenzhen zwei
Hongkonger Journalisten zu Gefängnisstrafen für das Betreiben eines
"illegalen Unternehmens", weil sie Exemplare eines politischen
Magazins per Post nach China geschickt hatten. Herausgeber Wang
Jianmin erhielt fünf Jahre und drei Monate, Chefredakteur Guo
Zhongxiao zwei Jahre und drei Monate Haft (http://t1p.de/glym). Die
beiden veröffentlichten zwei Zeitschriften, New Way Monthly und
Multiple Face, die sich mit den Vorgängen in der Kommunistischen
Partei Chinas beschäftigten (http://t1p.de/hycq). Wangs Anwälte
betonen, die Verurteilten hätten kein Versandgeschäft betrieben,
sondern lediglich ein paar Exemplare an Freunde geschickt.
Einer der wenigen Lichtblicke in der Hongkonger Medienlandschaft
ist die Gründung einer ganzen Reihe neuer Online-Medien. Allein
zwischen Mitte 2015 und Mitte 2016 starteten mindestens fünf solche
Neugründungen, darunter die unabhängige englischsprachige Website
Hong Kong Free Press und das investigative, durch Crowdfunding
finanzierte Portal FactWire (http://t1p.de/0yvl). Auch bei manchen
der Neugründungen steht allerdings die Frage im Raum, inwieweit sie
von chinesischem Geld und Einfluss abhängen.
Weitere Informationen zur Situation der Journalisten in Hongkong
und in China finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/china, den
Länderbericht "Die unsichtbare Hand auf Hongkongs Medien" (auf
Englisch, veröffentlicht Ende April 2016) unter http://t1p.de/5uvu.
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