(ots) - EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat
heute (Mittwoch) in seiner Rede zur Lage der Union 2016 vor dem
Europäischen Parlament in Straßburg eine schonungslose
Zustandsbeschreibung abgegeben und seine positive Agenda konkreter
europäischer Maßnahmen für das kommende Jahr präsentiert.
"Die nächsten zwölf Monate sind entscheidend, wenn wir unsere
Union wieder zusammenführen wollen", sagte Juncker. "Europa kann nur
funktionieren, wenn wir alle nach Einheit und Gemeinsamkeit streben
und das Gerangel um Kompetenzen und die Rivalitäten zwischen
Institutionen hinter uns lassen. Nur dann ist Europa mehr als die
Summe seiner Teile." Die großen, demokratischen Nationen Europas
dürften sich nicht vom Populismus verführen lassen. "Europa darf sich
im Angesicht des Terrors nicht wegducken. Die Mitgliedstaaten müssen
ein Europa bauen, das beschützt." Juncker kündigte konkrete
Initiativen unter anderem für Investitionen, den digitalen
Binnenmarkt und die Sicherheit an.
Europa befinde sich am Scheideweg, so Juncker in seiner
Einleitung, die er in deutscher Sprache vorbrachte. "Es ist an den
europäischen Nationen, die Gründe unserer europäischen Einheit zu
verteidigen. Niemand kann das statt ihrer tun." Kernbotschaften
seiner Rede:
Die europäische Art zu leben bewahren
Freizügigkeit: "Wir Europäer werden es niemals hinnehmen, dass
polnische Arbeiter auf den Straßen von Harlow oder andernorts
belästigt, angegriffen oder gar ermordet werden. Die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer ist ebenso ein gemeinsamer europäischer Wert wie
unser Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus."
Todesstrafe: "Wir Europäer sagen ein klares "Nein" zur
Todesstrafe. Denn wir glauben an den Wert des menschlichen Lebens und
achten es." Handel: "Das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada
ist das beste und fortschrittlichste Abkommen, das die EU je
ausgehandelt hat. Ich werde gemeinsam mit Ihnen und mit allen
Mitgliedstaaten darauf hinwirken, dass dieses Abkommen so bald wie
möglich ratifiziert wird."
Datenschutz: "Europäer möchten keine Drohnen, die über ihre Köpfe
kreisen und jede ihrer Bewegungen aufzeichnen oder Unternehmen, die
alle ihre Mausklicks speichern. Denn in Europa spielt der Schutz der
Privatsphäre eine Rolle. Das ist eine Frage der Menschenwürde."
Entsendung von Arbeitnehmern: "Arbeitnehmer sollten für gleiche
Arbeit am gleichen Ort auch den gleichen Lohn erhalten. Europa ist
nicht der Wilde Westen, sondern eine soziale Marktwirtschaft."
Wettbewerb: "In Europa werden Verbraucher vor Kartellen und
Marktmissbrauch durch mächtige Unternehmen geschützt. Das gilt auch
für Wirtschaftsgiganten wie Apple. In Europa nehmen wir es nicht hin,
dass mächtige Unternehmen in Hinterzimmern illegale Steuerdeals
aushandeln. Die Kommission achtet auf diese Steuerfairness. Das ist
die soziale Seite des Wettbewerbsrechts."
Stahlindustrie: "Wir haben bereits 37 Antidumping- und
Antisubventionsmaßnahmen in Kraft gesetzt, um unsere Stahlindustrie
vor unfairem Wettbewerb zu schützen. Doch wir müssen mehr tun. Ich
rufe alle Mitgliedstaaten und dieses Parlament dazu auf, die
Kommission dabei zu unterstützen, wenn es darum geht, unsere
handelspolitischen Schutzinstrumente zu stärken. Wir sollten keine
naiven Freihändler sein, aber wir sollten in der Lage sein, genauso
kraftvoll zu reagieren wie die Vereinigten Staaten."
Landwirtschaft: "Die Kommission wird unseren Landwirten immer zur
Seite stehen, insbesondere wenn sie wie jetzt durch schwierige Zeiten
gehen. Für mich ist es nicht akzeptabel, dass Milch billiger ist als
Wasser."
Ein Europa, das stärkt
Urheberrecht: "Ich möchte, dass Journalisten, Verlage und Urheber
eine faire Vergütung für ihre Arbeit erhalten. Dabei darf es keine
Rolle spielen, ob ein Werk im Studio oder im Wohnzimmer entstanden
ist, ob es offline oder online verbreitet wird, ob es über einen
Drucker vervielfältigt oder zu kommerziellen Zwecken ins Netz
gestellt wird."
Vernetzung: "Wir schlagen heute vor, bis 2020 die wichtigsten
öffentlichen Orte jedes europäischen Dorfes und jeder europäischen
Stadt mit kostenlosem WLAN-Internetzugang auszustatten."
Investitionen und Jobs: "Europa braucht massive Investitionen in
seine jungen Menschen, in seine Arbeitsuchenden, in seine
Start-up-Unternehmen. Wir schlagen heute vor, die Laufzeit des
Europäischen Fonds für strategische Investitionen und seine
Finanzierungskapazität zu verdoppeln."
"Ich kann und werde nicht akzeptieren, dass die
Millennium-Generation, die Generation Y, möglicherweise die erste
Generation seit 70 Jahren ist, der es schlechter geht als ihren
Eltern."
Solidarität: "Die Solidarität ist der Kitt, der unsere Union
zusammenhält. Aber ich weiß auch, dass das nur freiwillig geht.
Solidarität muss von Herzen kommen. Sie kann nicht erzwungen werden."
Migration: "Wir legen heute eine ehrgeizige Investitionsoffensive
für Afrika und die EU-Nachbarschaft vor mit einem
Investitionspotenzial von 44 Mrd. EUR. Wenn die Mitgliedstaaten
mitmachen, können wir bis zu 88 Mrd. EUR erreichen. Die neue
Investitionsoffensive für Afrika wird Menschen Alternativen bieten,
die sich andernfalls gezwungen sähen, auf der Suche nach einem
besseren Leben den Tod zu riskieren."
Ein Europa, das verteidigt
Terrorismus: "Gemeinsam haben wir getrauert - gemeinsam müssen wir
nun handeln."
"Im Angesicht des Schlimmsten, was die Menschheit hervorbringt,
müssen wir unseren Werten und uns selbst treu bleiben. Wir, das sind
demokratische, pluralistische, offene und tolerante Gesellschaften.
Der Preis für diese Toleranz darf jedoch nicht unsere Sicherheit
sein."
Sicherheit: "Wir werden unsere Grenzen mit der neuen Europäischen
Grenz- und Küstenwache schützen. Ich möchte, dass ab Oktober
mindestens 200 zusätzliche Grenzschutzbeamte und 50 zusätzliche
Fahrzeuge an der bulgarischen Außengrenze im Einsatz sind." Globales
Europa: "Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im
Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein
zu lassen."
"Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative
europäische Rüstungsindustrie. Deshalb werden wir noch vor Jahresende
einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer
Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht." Eine
Europäische Strategie für Syrien: "Federica Mogherini, unsere Hohe
Vertreterin und meine Vizepräsidentin, leistet hervorragende Arbeit.
Aber sie muss unsere Europäische Außenministerin werden, mit deren
Hilfe alle diplomatischen Dienste - von kleinen wie großen Ländern
gleichermaßen - ihre Kräfte bündeln, um in internationalen
Verhandlungen mehr Einfluss zu erlangen. Deswegen fordere ich heute
eine Europäische Strategie für Syrien."
Eine Verteidigungsunion: "Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt
vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Der Vertrag von Lissabon
gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre
Verteidigungsfähigkeiten in Form einer ständigen strukturierten
Zusammenarbeit zu bündeln, so sie dies wollen. Ich denke, jetzt ist
der richtige Zeitpunkt, diese Möglichkeit zu nutzen."
Ein Europa, das Verantwortung übernimmt
"Ich rufe jeden Einzelnen der 27 Staats- und Regierungschefs, die
den Weg nach Bratislava antreten, auf, sich drei Gründe zu überlegen,
warum wir die Europäische Union brauchen. Drei Dinge, die sie bereit
sind zu verteidigen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen.
Und für die sie dann auch rasch Taten folgen lassen."
"Ich habe jedes einzelne Mitglied meiner Kommission gebeten, in
den nächsten beiden Wochen in den nationalen Parlamenten der Länder,
die sie am besten kennen, über die Lage der Union zu diskutieren.
Denn Europa kann nur mit den Mitgliedstaaten aufgebaut werden,
niemals gegen sie."
"Es geht nicht an, dass die Kommission von Parlament und Rat zu
einer Entscheidung gezwungen wird, wenn sich die EU-Länder
untereinander nicht einigen können, ob sie die Verwendung von
Glyphosat in Pflanzenschutzmitteln verbieten wollen oder nicht. Daher
werden wir diese Regeln ändern - denn das ist keine Demokratie."
"Politisch zu sein heißt auch, technokratische Fehler sofort zu
bereinigen. Die Kommission, das Parlament und der Rat haben gemeinsam
beschlossen, die Roaminggebühren abzuschaffen. Dieses Versprechen
werden wir halten. Nicht nur für Geschäftsleute, die zwei Tage ins
Ausland reisen. Nicht nur für Urlauber, die zwei Wochen in der Sonne
verbringen. Sondern für alle, die im Ausland arbeiten. Und für die
Millionen von Erasmus-Studenten, die ein oder zwei Semester im
Ausland verbringen. Sie werden nächste Woche einen neuen, besseren
Entwurf zu Gesicht bekommen. Roaming sollte sein wie zu Hause sein."
"Verantwortung zu übernehmen bedeutet schließlich auch, dass wir
uns gegenüber den Wählerinnen und Wählern zu verantworten haben.
Deshalb werden wir vorschlagen, die absurde Regelung zu ändern,
wonach Kommissionsmitglieder ihr Amt niederlegen müssen, wenn sie bei
Wahlen zum Europäischen Parlament antreten wollen. Wir sollten die
Kommissionsmitglieder ermutigen, die nötige Begegnung mit der
Demokratie zu suchen. Und ihnen keine Steine in den Weg legen."
Hintergrund
Jedes Jahr im September hält der Präsident der Europäischen
Kommission vor dem Europäischen Parlament seine Rede zur Lage der
Union. An die Rede des Präsidenten schließt sich eine Debatte im
Plenum an. Die Rede markiert den Startschuss für den Dialog mit dem
Parlament und dem Rat zur Vorbereitung des jährlichen
Arbeitsprogramms der Kommission. Außerdem haben Präsident Juncker und
der Erste Vizepräsident Timmermans heute eine Absichtserklärung an
den Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz und an den
slowakischen Ministerpräsidenten und derzeitigen Ratsvorsitzenden
Robert Fico gerichtet, in dem sie ausführlich darlegen, welche
konkreten Initiativen die Kommission für die kommenden Monate plant.
Dies ist in der Rahmenvereinbarung von 2010 über die Beziehungen
zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission
ausdrücklich vorgesehen. Die diesjährige Rede zur Lage der Union ist
auch der Beitrag der Europäischen Kommission zur informellen Tagung
der 27 Staats- und Regierungschefs am 16. September 2016 in
Bratislava.
Weitere Informationen:
Redetext zur Lage der Union 2016: Hin zu einem besseren Europa -
Einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt
http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-16-3043_de.htm
Die 10 politischen Prioritäten der Europäischen Kommission
http://ec.europa.eu/priorities/_de
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
http://ec.europa.eu/commission/2014-2019/president_de
Rede zur Lage der Union 2015
http://ec.europa.eu/priorities/state-union-2015_de
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