Fragen an Digitalstrategie-Experten Uwe Weinreich zum Rückstand Europas bei digitalen Plattformen
(PresseBox) - Europa liegt in der Plattformökonomie weit hinter den USA und Asien zurück, berichten die Denkfabrik IE.F und Roland Berger in einer gerade veröffentlichten Studie. Nur 27 von 176 international führenden digitalen Plattformen kommen aus Europa. Was bedeutet das?
Das ist eine wichtige Studie, auch wenn die Ergebnisse nicht überraschen. Experten haben schon lange darauf hingewiesen. Jetzt ist es auch mit Daten belegt. Ja, kalifornische Unternehmen, wie Google, Apple, Facebook Amazon und viele weitere haben die Nase weit vorn und dominieren international. Das wird sich so schnell nicht ändern. Wir haben z.B. anhand von Plattformen wie dem Freundschaftsportal Friendscout gesehen, wie schwer es ist, Konzepte aus den USA einfach auf Europa zu übertragen. Facebook hat praktisch alle geschluckt. Da digitale Plattformen kaum noch an nationalen Grenzen halt machen, gibt es keine Nischen mehr, in denen Nachahmer wachsen können.
Aber Europa ist doch nicht nur in der Nachahmerrolle.
Das stimmt. Dennoch fällt es schwer, aus Europa heraus eine Plattform weltweit erfolgreich zu machen. Xing ist ein wundervoller Ansatz gewesen und lebt auch immer noch. Allerdings hat die US-Plattform linkedIn weltweit mehr als vierzigmal so viele Nutzer. Dass deutsche und europäische Plattformen so langsam wachsen, liegt sicherlich zu einem guten Teil daran, dass hier auch nur ein Bruchteil des Investmentkapitals vorhanden ist. Das ist aber nicht alles. Es hat auch mit der Agilität der Start-ups zu tun. Europäische Unternehmen adaptieren erst seit ein paar Jahren die Arbeitsweisen, die Kalifornien erfolgreich gemacht haben.
Sie haben in Ihrem gerade erschienenen Buch ?Lean Digitization' agile Methoden wie validiertes Lernen, Design Thinking u.a. beschrieben und zeigen, wie sie in angestammten Unternehmen angewendet werden können. Welcher Nutzen kann sich daraus für die deutsche und europäische Industrie entwickeln?
Wir Europäer stehen im Moment vor der Aufgabe, zu lernen, wie Unternehmen sich sehr schnell an sich verändernde Bedingungen anpassen können. Das ist eine Kernkompetenz für Zukunftsfähigkeit. Validiertes Lernen beispielsweise, setzt auf Business Experimente, um schnell und billig verlässliche Daten über Kunden und die Erfolgswahrscheinlichkeiten von Produkten und Geschäftsmodellen zu sammeln. Das senkt das Risiko von digitalen und nicht digitalen Innovationen um 80 bis 90 Prozent. Es ist aber bisher keine Methode, die in Ingenieurstudiengängen vermittelt wird. Daher braucht es einen ziemlich anstrengenden Bewusstseinswandel.
Nehmen wir an, dieser Wandel wird geschafft, wo hat Europa dann eine Chance in der digitalen Zukunft führend zu sein?
Ich habe gerade die Ingenieurkunst angesprochen. Bitte fassen Sie das nicht als Kritik auf. Ich bin ein begeisterter Anhänger gerade deutscher Ingenieurleistungen. Unsere Chancen liegen nicht darin, alles aufzugeben, was wir haben, sondern darin, eine Synthese des Bestehenden mit neuen und nachweislich wirksamen Ansätzen zu leisten.
Industrie 4.0 ist ein Ansatz, der in Deutschland bereits weit entwickelt ist. Bosch hat mit seiner Plattform SI beispielsweise eine Lösung für Industrie 4.0 auf den Markt gebracht, die sich international nicht zu verstecken braucht. Die Aktivitäten der deutschen Industrie sind wirklich beachtenswert. Allerdings begegnet mir immer wieder ein Verständnis von Industrie 4.0, dass sich zu sehr auf Prozessautomatisierung beschränkt. Wenn das geschieht, werden mehr als 80% des strategischen Potenzials ausgeblendet. Das können wir uns nicht leisten. Aus meiner Sicht muss jetzt nach dem erfolgreichen Start in Industrie 4.0 der nächste Schritt lauten, das Potenzial digitaler Geschäftsmodelle zu heben.
Das beschreiben Sie auch in Ihrem Buch. Aber lassen Sie uns nochmal über Zukunftsperspektiven sprechen. Es gibt Experten, die davon ausgehen, dass Europa den Anschluss uneinholbar verloren hat.
Solche Prognosen wirken vielleicht als Weckruf, taugen allerdings überhaupt nicht für die Gestaltung der Zukunft. Vor 20 Jahren habe ich mein erstes digitales Unternehmen gegründet. Seit dem hat sich die digitale Wirtschaft rasant entwickelt und alle paar Jahre sehen wir disruptive Veränderungen nicht nur durch, sondern gerade auch innerhalb der digitalen Wirtschaft. Die Karten werden immer wieder neu gemischt. Wer gut vorbereitet ist und eine überzeugende Digitalstrategie hat, kann den nächsten Entwicklungszyklus mitgestalten. Die hohe europäische Industrie-4.0-Kompetenz könnte tatsächlich eine starke Basis für den nächsten Zyklus abgeben. Die bisher dominierenden Plattformen sind fast ausschließlich auf die Interaktion mit Nutzern optimiert und monetarisieren hier gekonnt den Mehrwert, den sie Kunden bieten. Die nächste Welle der Digitalisierung wird aber kaum noch direkt mit Nutzern interagieren. Eine Ökonomie aus digitalen Assistenten, Schnittstellen (API) und automatisierten Transaktionen entwickelt sich bereits rasant. Wenn wir in Europa schnell lernen, uns sehr schnell an neue Herausforderungen anzupassen, haben wir eine sehr gute Chance, da mitzuspielen.
Herzlichen Dank
Uwe Weinreich ist mehrfacher digitaler Entrepreneur, arbeitet mittlerweile als Strategie- und Managementberater und ist Gründer von CoObeya.net, dem Expertennetzwerk für Innovation. Sein Buch ?Lean Digitization - Digitale Transformation durch agiles Management' ist gerade im Springer Verlag erschienen und liefert praktische Methoden, Werkzeuge und Checklisten, mit denen Unternehmen ihre digitale Strategie entwickeln und umsetzen können.