(ots) - München - Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat
bei den 30. MEDIENTAGEN MÜNCHEN davor gewarnt, große
Online-Plattformen könnten zu einem "Nadelöhr der Vielfalt" werden
und die Medien "existenziell bedrohen". In ihrer Eröffnungsrede des
Medienkongresses analysierte Merkel Chancen und Risiken digitaler
Medienkommunikation. Dabei betonte sie, es gehe darum, Medien- und
Meinungsvielfalt zu erhalten. Das sei Grundlage für die politische
Teilhabe einer informierten, kritischen Bürgerschaft. Vielfalt
erweitere in einer Demokratie den Horizont und sei Voraussetzung für
Kompromisse. Umso mehr gelte es, Pressefreiheit "immer und überall"
zu verteidigen, sagte die Bundeskanzlerin. Allerdings könne das
Internet auch zu einer Gefahr werden, wenn etwa Algorithmen dazu
führten, dass die öffentliche Meinung verzerrt werde. Dazu trügen
häufig Nutzer bei, die online nur ihre eigene Meinung bestätigt sehen
wollten. Deren Zweifel an der Demokratie, "die mit konstruktiver
Kritik wenig bis nichts zu tun haben", würden durch
Echo-Kammer-Effekte verstärkt und könnten zu einer weiteren
"Verzerrung der Wahrnehmung" führen. Merkel forderte, Algorithmen
müssten trans-parent sein. Risiken sah die Regierungschefin auch
darin, dass in der Online-Welt die Echtheit von Informationen und
Bildern oft nicht geprüft werden könne. Umso wichtiger sei ein
Qualitätsjournalismus, der einordne und Einzelaussagen in Beziehung
setze. Qualität stärke Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Merkel
unterstrich aber auch die Chancen der Internetgesellschaft: Das
Forschungsgebiet Künstliche Intelligenz sei "eines der großen
Themenfelder der Zukunft", das auf Algorithmen und Big Data
angewiesen sei und allen helfen könne, vorausgesetzt der Datenschutz
funktioniere und der Verwendungszweck von Daten werde nicht
missbraucht. Deutschland brauche als führender Industriestandort
Daten "als Rohstoff der Zukunft" ebenso wie breitbandige
Internetverbindungen. Bis 2018 versprach sie eine bundesweite
Online-Grundversorgung mit einer Datenübertragungsrate von mindestens
50 Mbit/s. Dafür würden vier Milliarden Euro investiert.Â
Auch Siegfried Schneider, Präsident der Bayerischen Landeszentrale
für neue Medien (BLM) und Vorsitzender der Gesellschafterversammlung
MEDIENTAGE MÜNCHEN, wies auf die Umbrüche der Branche in einer Zeit
hin, in der "Algorithmen, Bots und intelligente Empfehlungssysteme
die Medienwelt verändern". Horst Seehofer, Ministerpräsident des
Freistaates Bayern, erinnerte an die ersten MEDIENTAGE MÃœNCHEN.
Damals habe es eine sehr überschaubare Medienlandschaft gegeben.
Bundeskanzlerin Merkel erinnerte daran, bereits in den 1980er-Jahren
sei es - etwa bei der BLM-Gründung - Anliegen der Politik gewesen,
angesichts eines beginnenden Medienwandels Qualität und Vielfalt
sicherzustellen. Als aktuelle Herausforderungen für die Medienpolitik
nannte Merkel die Bereiche Wettbewerbsrecht, Verbraucher- und
Datenschutz sowie den Schutz geistigen Eigentums. Das alles müsse
auch auf europäischer Ebene gesichert werden. Die Europäische Union
benötige bei der Digitalisierung im Binnenmarkt einheitliche
Standards. So würden neue Arbeitsplätze geschaffen. Deshalb wollten
die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten auch die neue
AVMD-Richtlinie "schnell voranbringen", versicherte die
Bundeskanzlerin.
Eine weitere Welle der Digitalisierung, so prognostizierten
Experten beim Medientage-Gipfel, stehe unmittelbar bevor: Prof. Dr.
Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster, Vorsitzender der Geschäftsführung
des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI),
zeigte in seiner Keynote konkrete Auswirkungen einer digitalen
Disruption auf. Nachdem Zahlen bislang überwiegend nur gesammelt,
gespeichert und verarbeitet worden seien, gehe es im nächsten Schritt
darum, digitale Daten mit Hilfe von Algorithmen zu interpretieren, zu
veredeln und "aktiv zu monetarisieren". Dabei spiele künstliche
Intelligenz eine große Rolle. Welche Folgen es haben kann, wenn
Maschinen das Denken beigebracht wird (Deep Learning), machte der
Informatik-Professor an Beispielen wie der Personalisierung von
Medieninhalten oder selbstlernenden Systemen zum Erkennen von Sprache
und Gesichtern deutlich. Auf dieser Basis könne etwa das interaktive
semantische Fernsehsystem Swoozy Fernsehzuschauern jederzeit
gestengesteuert und intuitiv Fakten über eine gerade eingeblendete
TV-Szene beantworten. Künstliche Intelligenz bedeute, dass sich
Computer in ihrer Kommunikationsfähigkeit dem Menschen anpassen
würden. Medienbots und Roboterjournalismus könnten außerdem
Medienangebote personalisieren. Wahlster warnte aber auch vor
Gefahren. Würden Algorithmen die Arbeit von Redaktionen übernehmen,
seien Nachrichtenauswahl und Informationsgenese oft intransparent,
kritische Distanz und Unabhängigkeit nicht garantiert. Die
Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf die Meinungsvielfalt
müsse dringend erforscht werden, empfahl der DFKI-Geschäftsführer.
Künstliche Intelligenz: Zweite Welle der Digitalisierung
Was Künstliche Intelligenz leisten kann, veranschaulichte Martina
Koederitz. Die Vorsitzende der Geschäftsführung von IBM Deutschland
gab Einblicke in die Plattform Watson Internet of Things. Als
Beispiel präsentierte sie einen Trailer zum Film "Das Morgan
Projekt", den der Superrechner Watson automatisch aus Filmsequenzen
erstellte, nachdem zuvor selbstlernende Algorithmen erfolgreiche
andere Trailer analysiert hatten. Künstliche Assistenzsysteme könnten
helfen, Antworten bei vielen Problemen zu finden, zeigte sich
Koederitz von Künstlicher Intelligenz überzeugt. Philipp Justus,
Managing Director von Google Deutschland, berichtete, die
Alphabet-Tochterfirma Google DeepMind erforsche maschinelles Lernen.
Entsprechende Systeme würden beispielsweise zur Bilderkennung beim
Service Google Fotos oder bei der Sprachsteuerung von Smartphones
eingesetzt. "Das System lernt für Sie", wehrte sich Justus gegen
Datenschutz-Bedenken. "Wir müssen den Menschen den Wert von Daten
verdeutlichen", forderte Koederitz und nannte als positive Effekte
von Assistenzsystemen den Umgang mit Rohstoffen und Energie. Justus
verwies auf aktuelle Patienten-Datenanalysen in britischen
Krankenhäusern. Dass die systematische Auswertung von Nutzerdaten
schon heute die Medieninhalte verändert, wird angesichts von
Social-Media-Aktivitäten, Online-Angeboten oder Mobilfunk-Apps von
Printmedien und Rundfunk-Programmanbietern deutlich. Der Bayerische
Rundfunk habe eine eigene Software-Entwicklung aufgebaut, um eine
enge Zusammenarbeit mit den Redaktionen zu erreichen, schilderte
Ulrich Wilhelm, Intendant des Bayerischen Rundfunks. In punkto
Personalisierung von Inhalten stünden beim öffentlich-rechtlichen
Rundfunk allerdings individuelle Passgenauigkeit und Datenschutz in
einem Spannungsverhältnis. Deshalb seien die persönlichen Daten etwa
bei der Bayern 2 App jederzeit löschbar. Carsten Schmidt,
Vorsitzender der Geschäftsführung von Sky Deutschland, teilte mit,
Sky baue zurzeit ein Panel mit 15.000 Mitgliedern auf, die künftig
Auskunft über ihre Mediennutzung geben würden. Weil Sky bei der
GfK-Messung der Marktanteile nur mit etwa 400 Abonnenten vertreten
sei, würden diese Daten wenig aussagen.Â
Conrad Albert, der im Vorstand der ProSiebenSat.1 Media SE für den
Bereich External Affairs & Industry Relations zuständig ist, hob
hervor, für die Programmplanung von Sat.1 oder ProSieben gelte
vorerst weiter die Devise "Weniger Algorithmus, mehr Mensch".
Schließlich wollten die Zuschauer überrascht werden. Dass Netflix und
Amazon Prime stark auf Algorithmen setzen, habe der eigenen
Video-on-Demand-Plattform nicht geschadet: "Maxdome leidet nicht
unter Amazon und Netflix, im Gegenteil!"Â Auch wenn Nutzerdaten den
Unternehmen Aufschluss über die Wünsche und Motive von Zuschauern,
Hörern oder Lesern geben können, bleiben immer mehr Rezipienten für
klassische Medien unerreichbar: Die sogenannte Vertrauenskrise der
Medien hat dazu geführt, dass sich im Internet Verschwörungstheorien
und Hass-Kampagnen verbreiten. Dr. Armin Wolf, stellvertretender
Chefredakteur des Bereichs TV-Information beim Österreichischen
Rundfunk (ORF) und Moderator des Nachrichtenmagazins ZIB 2, sprach in
diesem Zusammenhang vom Kampagnenjournalismus einer post-faktischen
Gesellschaft. Sein Rezept dagegen: Könnten Journalisten das Publikum
nicht mehr über die klassischen Medien erreichen, müssten sie online
eine Gegenstrategie entwickeln. Â Mit Social Media gegen die
Vertrauenskrise Wolf empfahl, Social-Media-Plattformen zu
"infiltrieren" und das Publikum "zu seriösem Journalismus zu
verführen". Außer dem Kampagnen-Journalismus kritisierte der
ORF-Moderator auch den sogenannten Kommerz-Journalismus. In diesem
Fall gehe es im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie vor allem
darum, mit extremen und schrillen Inhalten Eskapismus zu bieten. Wolf
appellierte an die Branche, Journalismus müsse stärker Kontext und
Komplexität abbilden, zwischen wahr und unwahr, zwischen Sinn und
Unsinn unterscheiden, um so der Wahrheit so nahe wie irgendwie
möglich zu kommen. Wer steuert also wie die Medien? Und welche Rolle
spielt dabei das Phänomen Social Media? Soziale Online-Netzwerke
dienen Medienunternehmen, so wurde bei der abschließenden Diskussion
des Medientage-Gipfels klar, vor allem als Instrument zur
Kundenbindung und Reichweitensteige-rung. "Social Media ist keine
Bedrohung, sondern eine Chance, mehr Dynamik in ein Thema
reinzubringen", urteilte InStyle-Chefredakteurin Kerstin Weng.
"Facebook lebt von Emotionen. Die müssen wir nun mit Hirn verbinden",
schlug Stefan Plöchinger vor, der in der Chefredaktion der
Süd-deutschen Zeitung für digitale Projekte zuständig ist. So könne
gesellschaftlicher Mehrwert entstehen. Laura Himmelreich,
Chefredakteurin von Vice.com Deutschland, erläuterte die Strategie
des Lifestyle- und Jugendmagazins. Die Redaktion nutze möglichst
viele Plattformen, die jeweils optimal zu den Inhalten passen
müssten. "Vice denkt in Geschichten, nicht in Mediengrenzen",
beschrieb Himmelreich das erfolgreiche Konzept, das inzwischen in 38
Ländern funktioniere. Es gehe darum, in der Zielgruppe der 18- bis
34-Jährigen das größtmögliche Publikum zu erreichen. Ein ähnliches
Ziel streben auch die Macher von Funk, dem jungen Online-Angebot von
ARD und ZDF, an. Programmgeschäftsführer Florian Hager unterstrich
das Bemühen, non-linear und online über möglichst viele Plattformen
Nutzer zwischen 15 und 29 Jahren zu gewinnen. Dafür würden zurzeit
eigene Inhalte, Formate und Protagonisten etabliert. Wolfgang Link,
Vorsitzender der Geschäftsführung von ProSiebenSat.1 TV Deutschland,
merkte in der von ZDF-Moderatorin Dunja Hayali geleiteten Diskussion
an, junge Nutzer hätten das Interesse am Fernsehen nicht verloren.
Das würden die Erfolge von ProSieben beweisen. Im Übrigen gelte es,
angesichts der Individualisierung der Gesellschaft die Fragmentierung
des Marktes durch entsprechende Zielgruppen-Kanäle aktiv
mitzugestalten. Dunja Hayali fasste schließlich zusammen, alle
Medienangebote hätten für ihre jeweiligen Zielgruppen ihre
Berechtigung. Fazit: Die Nutzer gewinnen an Bedeutung, ebenso wie
Algorithmen, Künstliche Intelligenz und Personalisierung. Mit Bezug
auf das Medientage-Thema "Mobile & Me - wie das Ich die Medien
steuert" zeigte sich Kabarettist Django Asül am Ende angesichts von
Start-up-Dynamik, Technologiewahn und manch vermeintlicher Innovation
verwirrt: "Ich lasse Sie beruhigt alleine mit Ihrer Ratlosigkeit."
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