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Türkei: Medienkontrolle durch wirtschaftliche und politische Verflechtungen / Reporter ohne Grenzen stellt Media Ownership Monitor Türkei vor

ID: 1417670

(ots) - Lange vor der Repressionswelle seit dem
Putschversuch im Juli hat die zunehmende Medienkonzentration in der
Türkei die Freiräume für unabhängigen Journalismus immer weiter
eingeengt. Die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen vieler
wichtiger Medienbesitzer ersticken eine kritische Berichterstattung
im Keim. Dies zeigen die Ergebnisse dreimonatiger Recherchen im
Rahmen des weltweiten Projekts Media Ownership Monitor, die Reporter
ohne Grenzen (ROG) heute zusammen mit der türkischen
Partnerorganisation Bianet in Istanbul vorgestellt hat.

Die detaillierten Ergebnisse sind ab sofort auf Englisch und
Türkisch auf der MOM-Webseite http://turkey.mom-rsf.org abrufbar.
Mehr zum Media Ownership Monitor (MOM) finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/mom, die Ergebnisse aller bisherigen
Projektländer (auf Englisch) unter www.mom-rsf.org.

"Die Medienverbote und Massenverhaftungen der jüngsten Zeit sind
nur das sichtbarste Zeichen für die Repression der türkischen
Behörden gegen jeden unabhängigen Journalismus", sagte
ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Die wirtschaftliche Dimension
der Einflussnahme reicht viel tiefer und ermöglicht eine weitgehende
politische Kontrolle über die Massenmedien in der Türkei. Man findet
kaum einen türkischen Medienmogul, bei dessen Familie Präsident
Erdogan nicht schon Gast oder gar Trauzeuge auf einer Hochzeit war."

Zum Sinnbild für politische Selbstzensur in der Türkei wurden
während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 die Pinguine: Während in
Istanbul Zehntausende Menschen demonstrierten, strahlten viele
Nachrichtensender politisch Belangloses aus - darunter eine
Naturdokumentation über Pinguine auf CNN Türk. Seitdem sind die
wichtigsten Medien noch unterwürfiger geworden und unterstützen offen
Präsident Erdogan und dessen Regierungspartei AKP. Aber kontrolliert




Erdogan wirklich die Mehrheit der türkischen Medien - und wenn ja,
wie hat er das erreicht?

GEFÜGIG WEGEN ABHÄNGIGKEIT VON ÖFFENTLICHEN AUFTRÄGE IN ANDEREN
BRANCHEN

Die MOM-Ergebnisse machen die Besitzstrukturen der relevantesten
Medien in der Türkei in Form einer öffentlich zugänglichen
Online-Datenbank sichtbar. Auf diese Weise werden die Verflechtungen
bis hin zu wichtigen Einzelpersonen sowie deren politischen und
wirtschaftlichen Interessen nachvollziehbar. Dabei wird etwa
deutlich, dass die meisten Medienbesitzer auf öffentliche Aufträge in
anderen Branchen wie Energie, Transportwesen oder Bauwirtschaft
angewiesen und dementsprechend zurückhaltend mit Kritik an der
Regierung sind. So haben beim Fernsehen, der für die öffentliche
Meinungsbildung relevantesten Mediengattung in der Türkei, sieben der
zehn wichtigsten Besitzer politische Beziehungen zur
Regierungspartei.

Die MOM-Ergebnisse geben auch Hinweise auf weitere Schwächen des
Medienmarkts, die eine übermäßige politische Einflussnahme zusätzlich
begünstigen. So bleibt die Verteilung öffentlicher Werbeetats - einer
existenziell wichtigen Einnahmequelle gerade für kleinere Zeitungen -
im Dunklen. Der türkische Prüfausschuss für
Informationsfreiheitsanfragen lehnte eine Anfrage des MOM-Teams zu
diesem Thema mit Verweis auf "Geschäftsgeheimnisse" ab. Eine Anfrage
zu den Finanzen der staatlichen Rundfunkanstalt TRT wurde ebenso
abschlägig beschieden.

"Die wirtschaftliche und politische Gleichschaltung in der Türkei
führt zwangsläufig zur Selbstzensur vieler Journalisten, die ihre
Arbeit nicht verlieren wollen. Wer in diesen Zeiten von diesem Beruf
leben muss, darf sich keine Kritik erlauben", sagte
Bianet-Koordinator Evren Gönül. "In den meisten Fällen muss die
Regierung die Medien gar nicht mehr an die kurze Leine nehmen.
Wirtschaftlicher Druck ist viel wirksamer."

PANZERAUFTRÄGE, HÄFEN UND MEDIEN

Ein Beispiel für die politischen und wirtschaftlichen
Verflechtungen im türkischen Medienmarkt ist die Albayrak Yayin
Holding, die zwei Fernsehsender, die Zeitung Yeni Safak und sieben
Zeitschriften betreibt. Sechs Brüder der Albayrak-Familie sind
Anteilseigner des Konzerns, der seit Mitte der 1990er Jahre Dutzende
öffentliche Aufträge insbesondere von Stadtverwaltungen gewonnen hat.
Zu einigen dieser Geschäfte gab es Korruptionsvorwürfe oder
-ermittlungen.

Der zum Konzern der Albayraks gehörende Motoren- und
Fahrzeughersteller Tümosan gewann 2015 einen 190 Millionen Euro
schweren Auftrag des Verteidigungsministeriums zur Lieferung von
Panzern. Daneben ist der Konzern in so unterschiedlichen Branchen wie
Bau- und Abfallwirtschaft, Hafenbetrieb, Textilien,
Informationstechnologie, Tourismus und Werbung tätig. Seine engen
Kontakte zur regierenden AKP und zu Erdogan sind bekannt. So war der
heutige Präsident 2002 Trauzeuge der Tochter von Nuri Albayrak und
kam 2012 zur Verlobung von dessen Sohn.

"VERLIEBT" IN ERDOGAN

Ein weiteres Beispiel ist Ethem Sancak, der zu dessen
international tätigem Konzern unter anderem eine Krankenhauskette
gehört. Seine Mediengruppe besitzt drei überregionale Zeitungen, drei
Fernseh- und zwei Radiosender, zwei Zeitschriften und einige
Webseiten. Sancak unterstützt offen die AKP und Präsident Erdogan.
Berühmt wurde seine Aussage, er sei "verliebt" in Erdogan und würde
seine Familie für ihn opfern. Sancak hat eingestanden, er sei in das
Mediengeschäft eingestiegen, um Erdogan zu unterstützen.

Im Jahr 2013 kaufte Sancak die Zeitungen Günes und Aksam, den
Fernsehsender Sky360 TV, zwei Radiosender und mehrere Zeitschriften
vom türkischen Einlagensicherungsfonds TMSF. Dieser hatte sie zuvor
von der Cukurova-Gruppe wegen nicht bedienter Schulden beschlagnahmt.
In später publik gewordenen Telefonmitschnitten, die Sancak
zugeschrieben werden, beschwert sich der Unternehmer, er habe diese
bankrotten Medien kaufen müssen.

2014 kaufte Sancak dem Geschäftsmann Fettah Tamince alle Aktien an
der Star Media Group ab, zu der die Zeitung Star und der
Fernsehsender 24 TV gehören. Im selben Jahr erwarb Sancak durch eine
öffentliche Ausschreibung, bei der er der einzige Bieter war, das
Unternehmen BMC, das sich unter anderem Aufträge für Panzer und
Wasserwerfer für die türkische Armee und Polizei gesichert hat.
Zugleich fungiert der Unternehmer seit 2012 als Ombudsmann der
Regierungspartei AKP.

"Mit der MOM-Webseite können die Mediennutzer leicht herausfinden,
welche Interessen hinter den Nachrichten stehen, die sie sehen, lesen
oder hören", sagte Evren Gönül von Bianet. "Transparenz ist auf
diesem Gebiet unerlässlich."

Im September hatte Reporter ohne Grenzen einen ausführlichen
Türkei-Länderbericht über die massive Repression gegen Journalisten
seit Beginn des Ausnahmezustands veröffentlicht (http://t1p.de/l7xk).
Schon vor dem Ausnahmezustand hatte sich die Situation für die Medien
verschlechtert: In der aktuellen, im vergangenen April
veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf
Platz 151 von 180 Staaten.

MEDIA OWNERSHIP MONITOR - EIN GLOBALES RECHERCHEINSTRUMENT

Der Media Ownership Monitor Türkei wurde von Reporter ohne Grenzen
zusammen mit der IPS Communication Foundation und deren
Nachrichtenagentur Bianet zwischen Juli und Oktober 2016 in Istanbul
durchgeführt. Das Projekt hat die rechtlichen Rahmenbedingungen, die
Medienkonzentration und die Besitzstrukturen der 46 meistgenutzten
Medien der Türkei untersucht.

Der Media Ownership Monitor ist ein internationales Projekt von
Reporter ohne Grenzen, das mit Mitteln des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung umgesetzt wird.
Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen wurde er 2015 erstmals in
Kolumbien und Kambodscha durchgeführt. Weitere Projektländer im
laufenden Jahr sind die Ukraine, die Philippinen, Peru und die
Mongolei. Weitere Länder sind in Planung.

WEITERFÃœHRENDE INFORMATIONEN:

- Projektwebseite MOM Türkei: http://turkey.mom-rsf.org
- Globale MOM-Webseite (Englisch): http://www.mom-rsf.org
- Mehr zum Projekt Media Ownership Monitor (Deutsch):
www.reporter-ohne-grenzen.de/mom

- Mehr zur Lage der Journalisten in der Türkei:
www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei
- ROG-Länderbericht zu den Folgen des Ausnahmezustands für die
Pressefreiheit (September 2016): http://t1p.de/l7xk
- Bianet: http://bianet.org/english



Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29

Bianet
Evren Gönül
e-mail:bia(at)bianet.org
T: +90 212 251 15 03

Original-Content von: Reporter ohne Grenzen e.V., übermittelt durch news aktuell


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Datum: 27.10.2016 - 12:46 Uhr
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