PresseKat - Reporter ohne Grenzen: Türkische Journalisten nicht ins Asylverfahren treiben

Reporter ohne Grenzen: Türkische Journalisten nicht ins Asylverfahren treiben

ID: 1422468

(ots) - Reporter ohne Grenzen (ROG) fordert die
Bundesregierung auf, bei der Visavergabe an verfolgte türkische
Journalisten keine vermeidbaren bürokratischen Hürden zu errichten.
"Es kann nicht sein, dass türkische Journalisten ungewollt in ein
Asylverfahren getrieben werden, weil deutsche Behörden ihnen als
einzige Alternative die Rückreise in ihre Heimat und damit direkt in
die Arme einer Willkürjustiz lassen", sagte ROG-Geschäftsführer
Christian Mihr. "Bei der Visavergabe ist dringend mehr Flexibilität
nötig, um den Bedürfnissen politisch verfolgter Journalisten gerecht
zu werden. Hier könnten Deutschlands diplomatische Vertretungen
deutlich mehr tun."

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, hatte in
einem am Dienstag veröffentlichten Zeitungsinterview ein wichtiges
politisches Signal gesetzt und betont: "Alle kritischen Geister in
der Türkei sollen wissen, dass die Bundesregierung ihnen solidarisch
beisteht." Auf die Frage nach der Aufnahme verfolgter Politiker,
Journalisten oder Künstler verwies auf das Grundrecht auf Asyl:
"Deutschland ist ein weltoffenes Land und steht allen politisch
Verfolgten im Grundsatz offen. Sie können in Deutschland Asyl
beantragen. Das gilt dezidiert nicht nur für Journalisten. Dafür gibt
es unser Recht auf Asyl." (http://t1p.de/5r5z)

Der wichtige Hinweis auf das Asylrecht geht jedoch weitgehend an
den Bedürfnissen der betroffenen Journalisten vorbei: Die weitaus
meisten der türkischen Medienschaffenden, die sich mit der Bitte um
Zuflucht in Deutschland an Reporter ohne Grenzen wenden, wollen weder
politisches Asyl noch dauerhaft im Ausland bleiben. Ihnen geht es
vielmehr um vorübergehende Zuflucht, bis sich die politische
Situation in der Türkei beruhigt hat - und vor allem darum, ihre
journalistische Arbeit fortzusetzen. Würden sie politisches Asyl




beantragen, könnten sie jedoch während eines Verfahrens von
ungewisser Dauer nur sehr schwer eine Arbeit aufnehmen und wären in
ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

BENÖTIGT WERDEN AUFENTHALTSGENEHMIGUNGEN ALS FREIER JOURNALIST

Sinnvoller ist für diesen Personenkreis deshalb eine
Aufenthaltsgenehmigung aufgrund der Arbeit als freier Journalist, die
automatisch mit einer Arbeitsgenehmigung verbunden ist. Zudem ist in
vielen Fällen schnelles Handeln entscheidend, da Justiz und Behörden
in der Türkei derzeit fast täglich Journalisten oder deren Angehörige
festnehmen, sie mit Verwaltungssanktionen wie Ausreisesperren oder
der Annullierung von Reisepässen belegen und in vielen Fällen vor
Gericht bringen. In der Praxis errichten die deutschen Behörden
jedoch immer wieder zusätzliche Hürden nicht zuletzt für geflohene
Journalisten, die sich bereits in Deutschland aufhalten.

Unter den von ROG betreuten Fällen ist etwa ein Journalist, der
zunächst mit einem Touristenvisum nach Deutschland gekommen ist und
angesichts der Repressionswelle in seiner Heimat nun einen neuen
Aufenthaltstitel für einen längeren Aufenthalt benötigt. Gemäß dem
üblichen Verfahrensweg müsste er zunächst in die Türkei zurückreisen
und dort bei einer deutschen Auslandsvertretung eine
Aufenthaltsgenehmigung beantragen - obwohl ihm in seiner Heimat die
reale Gefahr einer Festnahme aufgrund seiner journalistischen Arbeit
droht. Dabei läge es im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde,
die Aufenthaltsgenehmigung auch in Deutschland zu erteilen.

In einem anderen Fall hat ROG eine von Repressalien bedrohte
Journalistin offiziell nach Deutschland eingeladen und die
Bereitschaft zur Kostenübernahme für ihren Aufenthalt erklärt. Nun
hat das deutsche Konsulat in Istanbul - entgegen der Praxis in
vergleichbaren von ROG betreuten Fällen - zusätzliche Auflagen für
die Visumerteilung gemacht und verlangt, die Antragstellerin müsse
neben einem Rückflugticket auch eine Hotelbuchung vorlegen.

Das Nothilfereferat von Reporter ohne Grenzen in Berlin steht
derzeit mit mehr als einem Dutzend Journalisten aus der Türkei über
die Möglichkeit eines sicheren Aufenthalts in Deutschland in Kontakt.
Daneben leistet ROG Hilfe vor Ort etwa durch Anwaltskosten für
inhaftierte Medienschaffende.

DEUTSCHE BOTSCHAFTEN VERWEISEN VERFOLGTE AUF ANTRAGSTELLUNG IN DER
HEIMAT

Immer wieder fliehen Journalisten - nicht nur aus der Türkei - auf
der Flucht vor Verfolgung zunächst in andere Staaten, in denen sie
aber keine Aussicht auf einen längeren legalen Aufenthalt haben. Auch
in solchen Fällen haben deutsche Botschaften ungeachtet der
offensichtlichen Gefahren für die Betroffenen beispielsweise auf das
übliche Verfahren verwiesen, zur Beantragung eines deutschen
Aufenthaltstitels zurück ins Heimatland zu reisen.

In einem Fall verweigerte eine Botschaft trotz Erfüllung
sämtlicher Voraussetzungen ein Visum für ein Stipendienprogramm in
Deutschland, weil sie Zweifel an der Rückkehrbereitschaft der
Antragstellerin hegte. Nötig ist auch hier mehr Flexibilität: Die
Botschaften sollten sich in solchen Ausnahmefällen selbst für die
Visumerteilung zuständig erklären.

Eine wertvolle Ergänzung könnten auch zusätzliche Austausch- oder
Stipendienprogramme für türkische Journalisten sein, mit deren Hilfe
sich von Verfolgung bedrohte Journalisten wie derzeit in der Türkei
zumindest kurzfristig der Repression in ihrem Heimatland entziehen
könnten. Entsprechende Überlegungen, wie sie Staatsminister Roth in
dem Zeitungsinterview angedeutet hat, sind aus Sicht von ROG zu
begrüßen.

PROZESS GEGEN ROG-KORRESPONDENT IN DER TÃœRKEI VERTAGT

Neben Dutzenden Journalisten steht in der Türkei derzeit auch der
ROG-Korrespondent Erol Önderoglu vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft
wirft ihm wegen der Teilnahme an einer Solidaritätsaktion mit der
pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem "Propaganda für eine
terroristische Organisation" vor (http://t1p.de/t9gw). Zu
Prozessbeginn wies Önderoglu am Dienstag die Anschuldigungen zurück
und betonte, er habe nur sein Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt.
Den Antrag der Verteidigung, die Anklage fallen zu lassen, lehnte das
Gericht ab (http://t1p.de/8pp4). Der Prozess wird am 11. Januar
fortgesetzt.

Mehr zur Arbeit des ROG-Referats für Nothilfe und
Flüchtlingsarbeit finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/hilfe-schutz/nothilfe/, mehr zur Lage
der Journalisten in der Türkei unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei.



Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29

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Datum: 09.11.2016 - 13:57 Uhr
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