(ots) - Führt die zunehmende Kinderarmut in
Deutschland zu einer Zwei-Klassengesellschaft im Gesundheitssystem?
Oder stellt Armut das größte Gesundheitsrisiko für Kinder in
Deutschland dar? Ja, denn in kaum einem anderen industrialisierten
Land besteht zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage von
Kindern und Jugendlichen solch ein enger Zusammenhang. Und das mit
gravierenden Folgen für jedes einzelne Kind bis hin zu einer erhöhten
Kindersterblichkeit. Politisches Handeln ist daher dringend geboten,
bislang aber weitgehend ausgeblieben.
Zu diesem ernüchternden Fazit kommt Dr. Christian Fricke,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und
Jugendmedizin (DGSPJ) und Ärztlicher Leiter des Werner Otto Instituts
in Hamburg. Denn im Kampf gegen die Kinderarmut kann Deutschland
wahrlich kein gutes Zeugnis ausgestellt werden. So liegt der Anteil
der Kinderarmut in Deutschland bei 15 Prozent. Knapp zwei Millionen
Kinder in Deutschland müssen unter Hartz IV Bedingungen leben, also
ab 2017 von 291 Euro (6-13 Jährige) oder 237 Euro (Kinder unter 6
Jahren). Dagegen muss in deutlich ärmeren Ländern wie der Slowakei
oder Ungarn lediglich jedes zehnte Kind in Armut leben, berichtete
Prof. Benard P. Dreyer, Präsident der American Academy of Pediatrics,
bei der Jahrestagung 2016 der DGSPJ in Hamburg. Zudem fallen
mindestens 10 Prozent aller Kinder, die unter Armutsbedingungen
aufwachsen, durch das Netz der Gesundheitsversorgung.
Konkret stellt sich die Lebenssituation von Kindern in prekären
Lebenssituationen nach einer Analyse von Prof. Volker Mall,
Sozialpädiater und Ärztlicher Direktor im Kinderzentrum München, wie
folgt dar: Obwohl arme Kinder häufiger krank werden, erhalten sie
seltener Medikamente als Mittel- und Oberschichtkinder. Etwa acht
Euro pro Monat sieht der Hartz-IV-Regelsatz für die
"Gesundheitspflege" eines Kindes vor. Notwendig wären nach Berechnung
des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zwischen 12,68 und 14,69 Euro.
Arme Kinder essen auch ungesünder, warnt Volker Mall. So leiden in
der Altersgruppe der 11- bis 13-Jährigen weniger als vier von hundert
Kindern mit hohem Sozialstatus unter krankhaftem Ãœbergewicht, bei
Gleichaltrigen mit dem niedrigsten Status sind es mehr als dreimal so
viele. Familien von Kindern mit chronischen Erkrankungen sehen zu
über 50% die Ursache für ökomische Probleme in der Erkrankung des
Kindes. Auch ADHS kommt im Kontext mit Armut gehäuft vor. Die
American Academy of Pediatrics hat die vielfältigen Auswirkungen von
Armut auf die Kindergesundheit jetzt ausgiebig analysiert und
erschütternde Ergebnisse veröffentlicht. 2014 haben 21,1 % (15,5
Millionen) Kinder und Jugendliche in den USA in Armut gelebt. Bei
alleinerziehenden Eltern beträgt die Rate sogar 45% (gegenüber 13%
bei 2 Elternteilen).
Ein niedriger sozioökonomischer Status hat zudem nicht nur in den
USA nachteilige Auswirkungen auf das Wohnumfeld, auf eine erhöhte
Gewaltexposition (zum Beispiel für Kindesmisshandlungen) und auf eine
erhöhte Rate an Verkehrsunfällen als Fußgänger und Radfahrer. Daraus
resultiert eine um das fünffach höhere Rate an "Unintentional
injuries." (unbeabsichtigte Verletzungen). Würde es gelingen die Rate
an "Unintentional injuries" und an Totschlagdelikten in den sozial
benachteiligten Wohngebieten auf das Niveau der wohlhabenden
Communities absenken, würde man die gesamte Kindersterblichkeit der
USA glatt um ein Drittel senken können.
Hier würden sich also Investitionen gleich in vielfacher Weise
auszahlen, ist DGSPJ-Präsident Christian Fricke überzeugt. Dazu
müssen aber Pädiater, Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter an
einem Strang ziehen. Die Sozialpädiatrie in Deutschland ist hier
vorbildlich aufgestellt, sowohl in der ambulanten Sozialpädiatrie wie
auch in spezialisierten Einrichtungen in den Sozialpädiatrischen
Zentren (SPZ), von denen es in Deutschland inzwischen rund 155 gibt.
Doch die Sozialpädiatrie muss dringend weiterentwickelt werden.
Besonders auszubauen sind die Kooperationen mit den Trägern der
Sozialhilfe, mit Jugend- und Gesundheitsämtern und mit den
sozialpädagogischen Diensten innerhalb der SPZ. Ein weit stärkeres
Augenmerk muss in sozial benachteiligten Familien auch auf die
Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion gelegt werden.
Die DGSPJ hat darauf mehrfach in Presseerklärungen hingewiesen und
fordert dabei auch die Einsetzung eines Kinderbeauftragten der
Bundesregierung. Notwendig sind zudem aufsuchende und mobile Dienste
und niedrigschwellige Anlaufstellen, um künftig auch die Familien zu
erreichen, die bislang durch Versorgungsmaschen gefallen sind. Das
sind mindestens 60.000 Kinder pro Geburtenjahrgang. Ein erschreckende
Zahl, weil schon ein einziges Kind ein Kind zu viel ist!
Pressekontakt:
Prof. Dr. med. Volker Mall
Volker.mall(at)kbo.de
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