(ots) - Strafverfolgung, willkürliche Festnahmen und
Behördenschikanen machen unabhängigen Journalismus in Algerien zu
einem unkalkulierbaren Risiko. Radio und Fernsehen werden trotz der
Öffnung für private Anbieter staatlich gegängelt, unabhängige
Zeitungen durch wirtschaftlichen Druck ausgetrocknet. Mit Blick auf
die Parlamentswahl im kommenden Frühjahr hat Reporter ohne Grenzen
die Lage der Pressefreiheit in Algerien jetzt in einem ausführlichen
Länderbericht untersucht. (Direkt zum Bericht/PDF:
http://t1p.de/oc7h)
"Hinter der Fassade einer vielfältigen Medienlandschaft untergräbt
die Regierung mit wirtschaftlichen und bürokratischen Schikanen jeden
Versuch einer kritischen Berichterstattung", sagte
ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske. Oberste Priorität habe derzeit
der Fall des wegen Beleidigung staatlicher Institutionen inhaftierten
Journalisten Hassan Bouras: "Die Vorwürfe halten keiner Überprüfung
stand. Er muss sofort freigelassen werden."
Bouras wurde am 28. November von einem Gericht in der
westalgerischen Stadt El Bayadh zu einem Jahr Freiheitsstrafe
verurteilt. Wegen der Veröffentlichung dreier Video-Interviews zu
Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfen gegen Polizei und Justiz
(http://t1p.de/rg23) befand es den freien Journalisten und
Menschenrechtsaktivisten der Beamtenbeleidigung sowie der Beleidigung
und Verleumdung staatlicher Institutionen für schuldig. Auch seine
drei Interviewpartner wurden zu jeweils einjährigen Haftstrafen
verurteilt. Bouras hat Berufung gegen sein Urteil eingelegt.
Ein Schock für Journalisten und Menschenrechtsverteidiger war der
Tod des in der Hauptstadt Algier inhaftierten algerisch-britischen
Journalisten Mohamed Tamalt am 11. Dezember (http://t1p.de/h5au).
Tamalt war zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, weil er mit
kritischen Veröffentlichungen auf seiner Facebook-Seite Assijak
al-Arabi (www.facebook.com/arabcontext/) Präsident Abdelaziz
Bouteflika beleidigt habe. Gleich nach seiner Inhaftierung Ende Juni
hatte er einen Hungerstreik begonnen, Anfang September fiel er ins
Koma. Seine Familie verlangt Einsicht in seine Krankenakte und eine
unabhängige Untersuchung.
DIE MEISTEN PRIVATEN FERNSEHSENDER ARBEITEN OHNE LIZENZ
Seit der Öffnung des Rundfunksektors für private Medien durch eine
Reform 2012 sind rund 50 algerische Fernsehsender gegründet worden.
Die meisten von ihnen haben allerdings bis heute keine Lizenz
erhalten. Oft haben sie ihre Firmensitze im Ausland, was unter
anderem die Akkreditierung ihrer Journalisten erschwert. Der unklare
rechtliche Status der Sender ermöglicht zudem willkürliche
Beschlagnahmen und Schließungen. So schlossen die Behörden den Sender
El Watan TV im Jahr 2015 nach Bouteflika-kritischen Äußerungen eines
Studiogasts kurzerhand (http://t1p.de/o1la). Der Verkauf von Sendern
wird je nach politischem Gusto erlaubt oder verhindert.
Viele der rund 150 Printmedien halten sich mit Kritik an der
politischen Führung zurück, um keine Werbeanzeigen zu verlieren, die
ihre wirtschaftliche Basis bilden. Die Schaffung einer gesetzlich
vorgesehenen unabhängigen Medienaufsicht, die über Unabhängigkeit und
Meinungsvielfalt wachen soll, wird seit Jahren verzögert.
Die Berichterstattung der staatlichen Medien - zehn Printtitel,
fünf Fernseh- und acht landesweite Radiosender - konzentriert sich
auf die Aktivitäten des Präsidenten und die Beschwörung einer
algerischen Identität. Die Opposition kommt in ihnen kaum zu Wort.
Auch die wachsende Zahl von Online-Medien arbeitet in einer
rechtlichen Grauzone und kann ihre Journalisten deshalb nicht
ordentlich akkreditieren, was sie schutzlos und anfällig für
Druckmittel macht. Da es nur einen einzigen, staatlichen
Internetanbieter gibt, kann die Regierung den Zugang zum Netz
jederzeit abschalten. So blockierte sie im vergangenen Juni die
sozialen Netzwerke, um vor den Abiturprüfungen das Durchsickern der
Prüfungsfragen zu verhindern (http://t1p.de/cb6m).
PRESSEVERGEHEN WERDEN MEIST NACH DEM STRAFGESETZ ABGEURTEILT
Die im vergangenen Frühjahr reformierte Verfassung
(http://www.joradp.dz/TRV/FCons.pdf) sowie das Mediengesetz von 2012
(http://www.joradp.dz/TRV/FInfo.pdf) verbieten zwar auf dem Papier
Haftstrafen für Pressevergehen. In der Praxis ignorieren die Gerichte
dies jedoch und wenden in einschlägigen Verfahren fast immer das
Strafrecht an. Immer wieder werden Journalisten wegen Delikten wie
Beleidigung staatlicher Institutionen, Anstachelung von Unruhen oder
Veröffentlichungen gegen die nationalen Interessen belangt.
Vor Prozessbeginn werden Journalisten und Bürgerjournalisten oft
in Untersuchungshaft genommen - meist im Widerspruch zum geltenden
Recht, das dies nur unter genau definierten Voraussetzungen erlaubt.
So verbrachten zwei Manager des zum Medienkonzern El Khabar
gehörenden Fernsehsenders KBC im vergangenen Sommer dreieinhalb
Wochen in Untersuchungshaft, weil ihnen falsche Angaben bei der
Beantragung einer Drehgenehmigung vorgeworfen wurden
(http://t1p.de/plt2). Unter dem gleichen Vorwand verboten die
Behörden eine Satireshow und eine kritische Talksendung des Senders
(http://t1p.de/1a7c).
Besonders stehen Medien wie die Zeitungen El Watan und El Khabar
unter Druck, die sich vor der Präsidentenwahl 2014 gegen die
Wiederwahl von Amtsinhaber Bouteflika gewandt hatten. Sie erleben
Anfeindungen durch hohe Regierungsvertreter, Schmutzkampagnen im
Internet und Drohungen gegen ihre Journalisten.
Im April 2015 musste der Fernsehsender El Djazairia TV abrupt eine
Satiresendung aus dem Programm nehmen, nachdem darin die
Luxusimmobilienkäufe algerischer Politikerfamilien in Paris
thematisiert wurden (http://t1p.de/fuo3). Tabuthemen sind auch die
Gesundheit des Präsidenten, Korruption und soziale Protestbewegungen.
AKKREDITIERUNGEN UND VISUMANTRÄGE WERDEN VERSCHLEPPT
Chefredakteure und Journalisten kritischer Medien wie Abdou Demmar
vom Magazin Algeria Focus erleben immer wieder Verleumdungs- und
Hetzkampagnen bis hin zu Todesdrohungen (http://t1p.de/1zwm). Zum
nationalen Tag der Pressefreiheit am 21. Oktober 2016 beschuldigte
der Präsident persönlich Online-Medien, sie verbreiteten
verleumderische Unterstellungen und subversive Ideen
(http://t1p.de/bqyx).
Journalisten ausländischer Medien müssen ihre Akkreditierungen
jährlich in einem aufwändigen Verfahren verlängern lassen. Oft werden
die Verlängerungen erst nach längeren Verzögerungen bewilligt, so
dass die Betroffenen in der Zwischenzeit ohne gültige Akkreditierung
arbeiten müssen. Im März 2015 wurde Boualem Goumrassa, Korrespondent
der panarabischen Zeitung Asharq Al-Awsat, wegen angeblicher
öffentlicher Kritik an hohen Regierungsvertretern die Akkreditierung
entzogen.
Visumanträge ausländischer Journalisten für Recherchereisen nach
Algerien werden oft erst in letzter Minute erteilt. Journalisten der
französischen Medien Le Monde und Canal Plus wurden die Visa zur
Begleitung einer Algerienreise des französischen Ministerpräsidenten
vergangenen April ganz verweigert, weil Le Monde Präsident Bouteflika
durch ein Foto mit den internationalen Enthüllungen um die "Panama
Papers" in Verbindung gebracht habe.
WIRTSCHAFTLICHER DRUCK DURCH ANZEIGENETATS UND STAATLICHE
DRUCKEREIEN
Anzeigenetats werden unverhohlen als Druckmittel gegen kritische
Medien eingesetzt. Den Zeitungen El Watan und El Khabar etwa
enthalten die staatlichen Institutionen schon seit den 1990er Jahren
Werbeanzeigen und damit eine wichtige Einnahmequelle vor. Im Juni
2014 drohte Kommunikationsminister Hamid Grine, ein gut gemanagtes
Unternehmen vergebe seine Werbung naturgemäß nur an rechtschaffene
Medien. Das Online-Portal Tout sur l'Algérie beschuldigte
Industrieminister Abdeslam Bouchouareb im Herbst 2015, er habe
wichtige Anzeigenkunden ausdrücklich aufgefordert, keine Werbung auf
der Webseite zu schalten.
Ein effizientes Mittel der Kontrolle sind auch die staatlichen
Druckereien, auf die ein Großteil der gedruckten Presse angewiesen
ist. Soll ein Titel abgestraft werden, verlangt die jeweilige
Druckerei plötzlich die sofortige Begleichung seiner Rechnungen. Dies
hat wiederholt dazu geführt, dass Titel nicht mehr erscheinen
konnten, so beispielsweise 2014 bei Algérie News und El Djazair News
(http://t1p.de/t65r).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit nimmt Algerien Platz 129 von
180 Ländern ein. Den vollständigen ROG-Länderbericht finden Sie als
PDF zum Download auf Englisch unter http://t1p.de/oc7h und auf
Französisch unter http://t1p.de/17mt, weitere Informationen zur
Situation der Journalisten in Algerien unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/algerien.
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
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