(ots) -
Herr Oberstarzt Prof. Dr. Friemert, als Leiter der AG Einsatz-,
Katastrophen- und Taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für
Unfallchirurgie (DGU), stehen Sie im regelmäßigen Erfahrungsaustausch
mit Ihren zivilen Kollegen. Die Wehrmedizin hat sich mit Beginn der
Auslandseinsätze der Bundeswehr Anfang der 90ziger Jahre stark
verändert. Eine hochwertige Individualmedizin ist an die Stelle der
sogenannten "Kriegsmedizin" gerückt. Vor dem Hintergrund der
Terroranschläge von Paris, Brüssel, München und Berlin hat der zivile
medizinische Sektor ein vermehrtes Interesse an den Erfahrungen, die
der Sanitätsdienst der Bundeswehr in den Auslandeinsätzen gemacht
hat.
Welche Auswirkungen hat die Abkehr von der sogenannten
Kriegsmedizin hin zur Individualmedizin für die medizinische
Versorgung der Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen?
Die Auswirkungen waren dramatisch. Die Kriegsmedizin, insbesondere
die Kriegschirurgie, ist eine Medizin der absolut reduzierten Mittel,
die Behandlung kann nur auf einem extrem niedrigen und reduzierten
Niveau durchgeführt werden, was zu einer erheblichen Veränderung des
Behandlungsergebnisses führt. So sind im Rahmen der
kriegschirurgischen Behandlung sehr viel häufiger Amputationen der
Extremitäten erforderlich, als rein medizinisch notwendig wäre. Die
Abkehr von der Kriegsmedizin hin zur Individualmedizin hat den
Sanitätsdienst vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Zum einen
war es erforderlich, das ärztliche und nicht ärztliche Personal so
aus- und weiterzubilden und vor allen Dingen in Ãœbung zu halten, dass
diese im Auslandseinsatz den Forderungen voll gerecht werden
können.Des Weiteren war es erforderlich, das Material und auch die
Infrastruktur so anzupassen, dass das Personal auf dem geforderten
Niveau arbeiten kann.
Welche Folgen hatte der Wandel für das Sanitätspersonal der
Bundeswehr?
Die Folgen für das Sanitätspersonal waren enorm. Insbesondere
mussten erhebliche Ausbildungsanstrengungen unternommen werden, um
das ärztliche wie nicht ärztliche Personal für die Auslandseinsätze
medizinisch, wie aber auch militärisch, zu qualifizieren. Das
Besondere und die Herausforderung der Auslandseinsätze waren und
sind, dass diejenigen, die im Auslandseinsatz im Sanitätsdienst
eingesetzt werden, eine sehr breite Ausbildung in der
notfallmedizinischen Behandlung besitzen müssen. Trotz aller
Anstrengungen bleibt das Personal auch im Auslandseinsatz eine
begrenzte Ressource, die nur dadurch kompensiert werden kann, dass
die Ausbildung des Personals sehr breit und umfassend durchgeführt
wird. Dadurch hat sich das ärztliche wie nicht ärztliche Personal in
den letzten 20 Jahren erheblich weiter- und höherqualifiziert und hat
z.T. das Niveau im zivilen Bereich überschritten. Insbesondere hat
sich die Ausbildung des gesamten Personals auf die Behandlung
schwerer Notfälle, insbesondere mit Schuss- und
Explosionsverletzungen, ausgerichtet; dieses gilt im Übrigen auch für
Konzepte der präklinischen Rettung im Felde, also z.B. das Bergen und
Retten unter Beschuss. Hier haben uns nicht nur die Maxime, sondern
auch die Einsatzerfahrungen dazu gezwungen, jeden einzelnen, aber
auch den gesamten Sanitätsdienst, fachlich wie militärisch erheblich
weiterzuentwickeln und weiterzubilden. Das Ergebnis dieser
Entwicklung ist an dem ausgesprochen hohen Ansehen, welches der
Sanitätsdienst im Einsatz bei allen anderen Nationen genießt, zu
erkennen.
Weshalb haben gerade jetzt die zivilen Notfallmediziner ein
gesteigertes Interesse an den Erfahrungen der Militärärzte?
Wie Sie wissen, hat sich der internationale Terrorismus erheblich
verstärkt, er ist mittlerweile in Europa und auch in Deutschland
angekommen. Die Terroristen verwenden für ihre Attentate überwiegend
Schuss- und Explosionsmittel. Dabei handelt es sich üblicherweise um
die gleichen Waffen und Waffensysteme, die im Krieg verwendet werden.
Somit entstehen bei den entsprechenden Attentaten, wie in Paris oder
Brüssel, die klassischen Kriegswunden, die wir als Sanitätsoffiziere
aus dem Auslandseinsatz kennen. Gott sei Dank hat die Bundesrepublik
Deutschland in den letzten 60 bis 70 Jahren keinen Bedarf gehabt,
sich mit diesen Kriegswunden zu beschäftigen. Dieses hat sich durch
die Verbreitung des internationalen Terrorismus geändert. Man kann
sagen, dass auf Grund des internationalen Terrorismus und der damit
verbundenen Anschläge die Kriegsverletzungen nach Deutschland und
nach Europa zurückgekehrt sind. Da die zivilen Kollegen und das
zivile medizinische Versorgungssystem keinerlei Erfahrungen und Ãœbung
in der Behandlung dieser Verletzungen und der damit zusammenhängenden
taktisch strategischen Handlungsweisen präklinisch wie klinisch hat,
ist es nur logisch, dass der Sanitätsdienst der Bundeswehr dieses
Know-how, diese Erfahrungen und Kenntnisse dem zivilen medizinischen
Versorgungssystem zur Verfügung stellt. Ein hervorragendes Beispiel
dieser zivil-militärischen Kooperation ist die Zusammenarbeit des
Sanitätsdienstes der Bundeswehr mit z.B. der Deutschen Gesellschaft
für Unfallchirurgie, aber auch der Deutschen Gesellschaft für
Allgemein- und Viszeralchirurgie oder der Deutschen Gesellschaft für
Gefäßchirurgie, im präklinischen Bereich auch der Deutschen
Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin.
An welchen Erfahrungspotentialen sind die zivilen Kollegen
besonders interessiert?
Es gibt zwei wesentliche Themenbereiche, an denen die zivilen
Kollegen interessiert sind. Zum einen die rein medizinischen Themen,
wie die Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen. Diese
Verletzungsentitäten liegen in Deutschland kaum vor, so dass
keinerlei Erfahrungen damit bestehen. Der zweite Aspekt aber ist,
dass die Schuss- und Explosionsverletzungen penetrierende
Verletzungen sind, die eine völlig andere Blutungsdynamik aufweisen
als "normale" schwere Unfälle und damit in der Frage der taktisch
strategischen Behandlung, vor allen Dingen bei einem Massenanfall von
solchen Verletzten, anders zu handeln ist, als dieses das
medizinische System in Deutschland gewohnt ist. In der Präklinik wie
in der Klinik sind völlig andere taktisch strategische Entscheidungen
zu treffen, die eben der besonderen Situation eines Terrorattentates
geschuldet ist. Dieses hat zum einen mit den Verletzungen
(penetrierende Verletzungen, hohe Blutungsraten, hohes Versterben) zu
tun, wie aber auch einem Unterschied in der terroristischen Lage an
sich. Diese unterscheidet sich immanent von einem Massenunfall z.B.
durch eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Während letztere klar
definiert und endlich ist, ist beispielsweise nie klar, wann ein
terroristisches Attentat wirklich zu Ende ist, somit ist auch nie
klar, wie viele Patienten wirklich versorgt werden müssen. Dieses
kleine Beispiel soll nur zeigen, dass erhebliche Unterschiede in der
Lage eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) durch einen Autounfall
im Vergleich zu einem MANV bei einem Terrorattentat bestehen.
Welche Maßnahmen müssen aus Sicht der DGU-AG Einsatz-,
Katastrophen- und Taktische Chirurgie getroffen werden, um die
Versorgung von Verletzten bei Terroranschlägen zu verbessern?
Im Wesentlichen müssen die zivilen Kollegen in der Behandlung von
Schuss und Explosionsverletzungen, wie auch in Fragen der taktisch
strategischen Medizin und Entscheidungsfindung geschult und
ausgebildet werden. Verschiedene Fachgesellschaften haben dazu für
ihren Fachbereich Ausbildungsprogramme, wie z.B. Kurse, zu den
entsprechenden Fragestellungen entwickelt, und diese werden auch
schon durchgeführt. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
führt gerade einen Kurs Terror und Desaster Surgical Care (TDSC ®)
ein, bei dem es im Wesentlichen um die chirurgischen innerklinischen
Belange geht. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und
Viszeralchirurgie hat über die CARMIN (Pendant zur EKTC der DGU)
ebenfalls einen Kurs entwickelt, indem Viszeralchirurgen in der
Behandlung von penetrierenden Verletzungen im Bereich des Bauch und
des Thorax ausgebildet und geschult werden.
Die DGU hat mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr einen
5-Punkteplan entwickelt, um das Traumanetzwerk der DGU nutzend, die
Wissensinhalte möglichst schnell in der Fläche vermitteln zu können.
Meiner Ansicht nach ist die Vermittlung von Wissensinhalten der
entscheidende Punkt, um die Versorgung von Verletzten bei
Terroranschlägen in Deutschland deutlich zu verbessern. Flankiert
werden diese Maßnahmen natürlich durch organisatorische Maßnahmen
sowie politische Aktivitäten.
Die Akademie der Unfallchirurgie (AUC) organisiert im Auftrag der
DGU regionale Informationstage zu "Terroranschläge - eine neue
traumatologische Herausforderung". An wen sind diese
Informationsveranstaltungen gerichtet?
Es ist richtig, dass die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
Informationstage zu Terroranschlägen durchgeführt hat. Der letzte
findet am kommenden Wochenende in Koblenz statt. In 52
Traumanetzwerken sind insgesamt 600 Kliniken zusammengeschlossen, die
die Versorgung von schwer verletzten Patienten rund um die Uhr
sicherstellt. Das Ziel der Informationstage war es nun, sämtliche
Traumanetzwerke zum einen darüber zu informieren, welche Unterschiede
bei terroristischen Anschlägen gegenüber unseren normalen Unfällen
bestehen, um hier eine Sensibilität zu schaffen. Des Weiteren war
Aufgabe der Informationstage, die Traumanetzwerke über die
Aktivitäten und Planungen der Deutschen Gesellschaft für
Unfallchirurgie über die AUC zu informieren. Man kann sagen, dass
diese Informationstage einen großen Erfolg darstellen, da auch
dadurch das Informationsdefizit klar geworden ist, und vor allen
Dingen viel Verständnis dafür entwickelt werden konnte, dass sich
jedes Traumanetzwerk mit dem Themenbereich Terroranschläge
auseinandersetzen muss, unter dem Motto "Terroranschläge sind
anders".
Hinweis: Am 24./25.02.2017 findet im Bundeswehrzentralkrankenhaus
Koblenz eine Informationsveranstaltung der DGU zum Thema
"Terroranschläge - eine neue traumatologische Herausforderung" statt.
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