(ots) - Das Scheidungsverfahren läuft, wer sitzt am
längeren Hebel?
Dr. Nicolai von Ondarza: Zunächst mal die Europäische Union, die
den Prozess weitgehend diktieren kann. Man kann bereits jetzt
erkennen, dass die EU-Kommission ein Verfahren durchsetzen will,
wonach erst die Scheidung geregelt wird und später - voraussichtlich
ab 2018 - das künftige Verhältnis zwischen der EU27 und dem
Vereinigten Königreich.
Für den Kontinent geht es bei der Regelung der künftigen
Handelsbeziehungen um acht Prozent seiner Exporte, für die Insel um
die Hälfe. Wie bitter wird die Erkenntnis für Downing Street 10,
dass man nicht auf Augenhöhe verhandelt?
Das wird extrem bitter. In Großbritannien geht man noch davon aus,
dass das von Theresa May versprochene "globale Britannien" auf
Augenhöhe mit der EU verhandelt. Das wird ein harter Realitätscheck
sein, wenn sich in den Handelsverhandlungen die Erkenntnis
durchsetzt, dass man der kleinere und abhängigere Partner ist. Und
dies ja nicht nur bei den Verhandlungen mit Europa, sondern ebenso in
denen mit den USA. Denn es ist in erster Linie Großbritannien auf
einen schnellen Abschluss von neuen Handelsabkommen angewiesen, da es
zusätzlich zum EU-Binnenmarkt auch alle bisherigen
EU-Freihandelsabkommen verliert.
Nur wenige Tage nach der Austrittserklärung fiel beim Streit um
Gibraltar bereits das Wort Krieg. Leidet das Hard-Brexit-Lager an
einem nationalen Wahn?
Ich denke, man sollte derartige Äußerungen nicht überbewerten,
aber sie belegen schon deutlich, dass derzeit das Hard-Brexit-Lager
die mediale Debatte dominiert. Und dieses Lager sieht im Brexit kein
Verlust-Geschäft, sondern ein Projekt der nationalen
Wiederauferstehung. Eine Einschätzung, die es sehr schwierig macht,
mit Vertretern des harten Brexit-Lagers im Kabinett über
Zugeständnisse gegenüber der EU zu sprechen.
Wie soll Theresa May das handhaben? Jeder Kompromiss wird doch von
der Fleet Street bereits als Skandal verunglimpft....
Da kommt eine Klippe auf sie zu. Bisher hat sie noch einen Bonus,
weil sie es geschafft hat, sich nach innen als harte Verhandlerin
gegenüber Europa darzustellen. Dafür wurde sie von der konservativen
Presse und dem Hard-Brexit-Lager in der eigenen Partei gefeiert. Je
mehr sie aber Zugeständnisse macht, wird sie als eine
Premierministerin dastehen, die die Werte der Tories hintergeht. Die
Erfahrung mit David Cameron aber auch mit May lehrt, dass sich beide
- vor die Wahl gestellt, einen Kompromiss mit der EU einzugehen oder
den Vertretern der reinen Lehre in der eigenen Partei zu folgen -
immer auf die Seite der Hardliner bei den Konservativen gestellt
haben. Das heißt, die Gefahr eines Scheiterns der Verhandlungen ist
real.
Wird May ihre Rhetorik vom Brexit als Erfolgsgeschichte noch auf
die Füße fallen, wenn gerade die Schichten, die am meisten Brexiteers
stellen, unter Inflation und stagnierenden Löhnen leiden?
Der Einfluss der wirtschaftlichen Lage auf die öffentliche Meinung
ist tatsächlich immens. Bisher haben sich die negativen Prognosen zum
Brexit überhaupt nicht erfüllt. Im Gegenteil, Großbritannien wächst
stärker als Frankreich oder Italien. Solange dieser Erfolg anhält,
wird die Bevölkerung zum harten Brexit stehen. Sollte es aber noch
zum prognostizierten Einbruch in der Wirtschaftskraft kommen, wird
der Widerstand steigen.
In einem Spectator-Interview hat May den Brexit auch als Votum für
einen Umbau des Landes gedeutet, in dem Verdienste mehr zählen als
Abstammung. Verhebt sie sich, indem sie versucht, die tieferen
Ursachen des Brexit zu beheben, während die Folgen des Brexit das
Land beuteln?
Das ist ein grundsätzliches Problem mit Referenden. Eigentlich
haben die Briten nur eine einfache Ja-oder-Nein-Frage beantwortet.
Dennoch deuten die Politiker nun sehr viel in dieses Votum hinein.
Ich gehe davon aus, dass der Brexit das alles beherrschende Thema der
Regierungszeit von Theresa May sein wird. Sie wird alle Kapazitäten
brauchen, um die Folgen des Brexits zu dämpfen. Nicht nur
wirtschaftlich, sondern auch bezogen auf die Einheit des Landes -
Stichworte sind Schottland, Nordirland und Gibraltar. Ein
zusätzliches wirtschaftliches und soziales Umkrempeln des Landes
würde die Regierung überfordern.
Michael Heseltine hat es als "nicht zu akzeptieren" bezeichnet,
dass mit dem Rückzug des britischen Gegengewichts in Europa
Deutschland als Verlierer des Zweiten Weltkriegs "den Frieden
gewinnt". Hat er recht oder verliert nicht vielmehr Deutschland einen
Partner, der in vielem ähnlicher tickte als etwa Frankreich?
Ich denke, dass die Fixierung britischer Politiker auf den Zweiten
Weltkrieg als Richtungsweiser gemessen an anderen europäischen
Nationen bisweilen zu stark ist. Abseits von historischen Analysen
muss man aber konstatieren, dass Deutschland zwar einen Partner
verliert, zugleich aber in Europa an Einfluss gewinnt, weil es für
bisherige Parteigänger der Briten, wie die Niederlande, die
baltischen und nordeuropäischen Länder, künftig ein natürlicherer
Ansprechpartner sein wird als etwa Frankreich. Dennoch bleibt auch
nach dem Brexit zu konstatieren - alleine kann Deutschland die EU
nicht führen, sondern braucht einen starken Partner in Frankreich.
Werden die Tories angesichts eines einflussreicheren Deutschlands
die Erzählung anbieten, die Deutschen als Kern einer kontinentalen
Verschwörung wollten die Briten abstrafen?
Die öffentliche Kommunikation wird bei den Brexit-Verhandlungen
tatsächlich eine große Rolle spielen. Schon jetzt versuchen die
Briten, mögliche Schwierigkeiten bei den Verhandlungen entweder auf
die Bürokraten in Brüssel oder auf Deutschland als den vermeintlichen
Hegemon Europas zu schieben. Deshalb ist es für die Bundesregierung
sehr wichtig, bei den Verhandlungen ständig klarzustellen, dass man
keineswegs alleine verhandelt, sondern nur als Teil der EU27.
In ihrem Austrittsschreiben bot Theresa May dem Kontinent gleich
dreimal eine "tiefe und besondere Freundschaft" an, drohte aber auch
damit, Terror-Geheimdiensterkenntnisse für sich zu behalten, wenn
Europa beim Handel keine Zugeständnisse macht. Ist dies das
Spannungsfeld, in dem die Verhandlungen laufen werden?
Das Spannungsfeld ist eher dadurch gekennzeichnet, dass die Briten
fast verzweifelt nach Druckmitteln gegenüber der EU suchen. Gefunden
haben sie bisher a) die Sicherheit, b) die in Großbritannien lebenden
EU-Bürger und c) die City of London. Die Scheidungsverhandlungen
können daher sehr hässlich werden, da die Briten sehr vehement um
ihren nationalen Wohlstand kämpfen werden.
Das Zeitfenster scheint angesichts der Komplexität der Scheidung
auf groteske Art zu knapp zu sein. Läuft es auf eine
Ãœbergangsregelung oder sogar einen vertragslosen Brexit aus Zeitnot
hinaus?
An einem vertragslosen Brexit haben zumindest die vernünftigen
politischen Führer auf beiden Seiten kein Interesse. Aber in der Tat
ist die knappe Zeit ein wichtiger Faktor. Vermutlich wird sich die EU
damit durchsetzen, Scheidung und neue Beziehung nacheinander zu
verhandeln, auch, weil man für das Aushandeln eines
Freihandelsvertrages nach den Erfahrungen mit Südkorea, Ceta und TTIP
mindestens vier Jahre einplanen muss. Deswegen gehe ich von einem
formalen Austritt 2019 und einer anschließenden mehrjährigen
Ãœbergangsphase aus.
Derzeit scheint der Brexit die 27 stärker zusammengeschweißt zu
haben. Doch im konkreten Poker wird Deutschland seine Auto-Industrie
im Blick haben, Finnland seine Papier-Exporte, Balten und
Mitteleuropäer ihre Auswanderer, Südeuropa die britischen Urlauber.
Wie leicht wird es London fallen, den Spaltpilz in die Union zu
tragen?
Schwerer, als man in London glaubt. Die EU27 sind bisher einiger
aufgetreten als erwartet. Insofern ist die Verhandlungsstrategie
geschickt, erst mit den Scheidungsfragen, den EU-Bürgern auf der
Insel, dem Haushaltsabschluss und den Grenzen zu beginnen. Denn in
diesen Punkten sind sich die 27 sehr einig. Und bei Streitfragen oder
des künftigen Grenzregimes zwischen Irland und Nordirland stellt sich
die EU als Ganzes hinter die Interessen des einzelnen
Mitgliedsstaates. Dieses Signal ist wichtig, um die EU27 auch bei den
kritischen Fragen zusammenzuhalten.
Derzeit wird ein zweites Referendum durch die Bank abgelehnt. Wird
sich das das nur knapp unterlegene Remain-Lager gefallen lassen, wenn
sich Lkw von London bis Dover stauen und sich die Regale leeren?
Derzeit ist das Remain-Lager, obwohl es in der Tat nur knapp mit 48
zu 52 Prozent unterlag, in der öffentlichen Debatte auf der Insel
komplett an den Rand gedrängt. Vor allem wegen der Schwäche der
zerstrittenen Labour-Partei gibt es keine nennenswerte Opposition,
die auf einen weichen Brexit drängen könnte. Deswegen müssen wir uns
auf einen klaren Brexit einstellen. Die Frage nach einem Exit aus dem
Brexit ist so lange akademischer Natur, bis ein denkbarer massiver
wirtschaftlicher Abschwung eintritt. Eine Wiederannäherung
Großbritanniens an die EU halte ich nur in sehr langen Zeiträumen für
denkbar. Das Gespräch führte Joachim Zießler
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