(ots) - Ist Erdogan am Ziel? Ist er nun, in der Nachfolge
Mustafa Kemal Atatürks, der neue "Vater der Türken"? Machtpolitisch
gibt es frappierende Ähnlichkeiten: in der Brutalität etwa,
politische Gegner auszuschalten. Davon abgesehen tritt Erdogan das
Erbe Atatürks systematisch mit Füßen. Die Verwestlichung der Türkei,
die Hinwendung zu Europa und vor allem die Säkularisierung des
Landes, die Trennung von Glaube und Macht also - das alles wird
Schritt für Schritt zurückgedreht. Der Sonntag war ein schwarzer Tag
für die Türkei.
Wer dagegen eher halb volle denn halb leere Gläser sieht, muss auf
die 49 Prozent Nein-Sager in der Türkei verweisen. Jeder Zweite hat
sich Erdogan verweigert. Das kann man angesichts des massiven
politischen Drucks, den das Regierungslager über Monate hinweg auf
die Bevölkerung ausgeübt hatte, auch als eine krachende Niederlage
für den Autokraten werten.
Was hat dieser Erdogan nicht alles getan, um die Wahl zu gewinnen?
Man muss sich gar nicht lange mit der Frage aufhalten, ob die
Abstimmung selbst manipuliert war oder nicht. Weit schwerer wiegt,
dass fast alle regierungskritischen Medien in den vergangenen Monaten
mundtot gemacht wurden, dass mehr als 100 Journalisten in den
Gefängnissen sitzen, darunter der Deutsch-Türke Deniz Yücel. Wer sich
offen gegen Erdogan stellte, galt und gilt als Terrorist. Nun muss
sich das AKP-Regime fragen lassen, ob eigentlich die Hälfte des
eigenen Volkes aus Terroristen besteht.
Der Preis für Erdogans Pyrrhussieg ist hoch, und Europa mit
Deutschland an der Spitze sollte an der Preisspirale ruhig noch etwas
drehen. Das Argument, Sanktionen gegen die Türkei würden Erdogan im
Wahlkampf helfen, verfängt nun nicht mehr. Das Thema
EU-Beitrittsgespräche, schon lange eine Farce, muss beendet werden.
Schluss mit jeglichen Zugeständnissen und finanziellen Beihilfen!
Stattdessen sollten die Europäer die Erdogan-Gegner - auch und vor
allem mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen Ende 2019 - in und
außerhalb der Türkei nach Kräften unterstützen.
Betrüblich stimmt derweil das Abstimmungsverhalten der
Türkeistämmigen in Deutschland. Zwei von drei haben für die
Verfassungsreform gestimmt. Noch schlimmer sieht es im Ruhrgebiet
aus. Hier ist das Glas, da hilft auch penetranter Optimismus nichts,
zu drei Viertel leer. Satte 75 Prozent der Türken im Revier haben
"Ja" gesagt. In Gelsenkirchen etwa meinten einige Ja-Sager, noch am
Abend des Ostersonntags mit Türkei-Fahnen hupend durch die Innenstadt
fahren zu müssen, um ihren vermeintlichen Sieg zu feiern.
Das macht wütend. Selbst jene wohlmeinenden Linken, die man sonst
auf jedem Multikulti-Fest treffen kann, ließen ihrer enttäuschten
Liebe in den angeblich sozialen Netzwerken freien Lauf und forderten
die Erdogan-Wähler auf, Deutschland zu verlassen. Ausländer raus?
Ernsthaft? Darauf hatten bislang die Rechtsradikalen das Monopol.
Vielleicht hilft ja der Gedanke, dass die allermeisten hupenden
Erdogan-Freunde nicht einmal ansatzweise wissen, worum es bei der
Abstimmung eigentlich ging. Wir haben uns einem Integrationsversagen
auf breiter Front zu stellen, das im Kern ein Bildungsversagen ist.
So lange die soziale und/oder ethnische Herkunft weiter entscheidend
für den schulischen Erfolg unserer Kinder ist, kommen wir auch bei
der Integration keinen Zentimeter weiter.
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