(ots) - Erst stimmen die Briten für den Brexit, dann
schwächen sie dessen Protagonisten, stärken aber auch nicht die
europafreundlichen Liberaldemokraten. Wissen die Briten nicht, was
sie wollen?
Dr. Nicolai von Ondarza: Ich denke, dass dieser Wahlgang nicht in
erster Linie eine Abstimmung gegen den Brexit war, sondern gegen
andere Vorhaben von Theresa May. Vertrauen hat sie dabei vor allem im
Bereich Sozialpolitik und Terrorismusbekämpfung verspielt.
Wie ihr Vorgänger ließ Theresa May wählen, um ihre
innerparteilichen Widersacher auszuhebeln und verspekulierte sich.
Sie blieb fixiert auf den Brexit, obwohl die Briten diesen offenbar
längst als gegeben hinnehmen. Was würde Winston Churchill zur
Qualität seiner Nachfolger sagen?
Ondarza: Er würde wohl feststellen, dass May eine ähnliche Hybris
an den Tag gelegt hat wie David Cameron. Sie hat die Neuwahl ohne Not
angesetzt, in einer Zeit, als sie davon ausging, ihre Mehrheit
deutlich ausbauen zu können. Indem sie die Stimmung in der
Bevölkerung so grotesk falsch einschätzte, brachte sie nicht nur
sich, sondern auch Großbritannien angesichts der bevorstehenden
Brexit-Verhandlungen in eine schwierige Lage.
Wäre eine gestärkte - also von ihren eigenen Parteifreunden
weniger erpressbare - Premierministerin für den Brexit-Poker eher im
Sinne der EU gewesen?
Ondarza: Zumindest hätte die EU eine klare Verhandlungspartnerin
gehabt. Vorher hatte May es trotz der Vielzahl von Optionen beim
Brexit geschafft, die Tories auf eine Linie einzuschwören. Diese
Einigkeit ist jetzt dahin. Auf einmal sind wieder alle Möglichkeiten
auf dem Tisch. Zugleich tickt die Uhr unerbittlich, da bis März 2019
eine Einigung erreicht sein muss. Fast drei von 24 Monaten sind
bereits verstrichen, ohne dass die Verhandlungen überhaupt anfangen
konnten. Diese Unsicherheit über die künftige britische Linie macht
die Verhandlungen für die EU zusätzlich schwer. Derzeit weiß man ja
noch nicht mal, wie lange sich May als Premierministerin halten kann.
Steigt die Gefahr, dass die Verhandlungen gleich zu Beginn
scheitern, weil May weiß, dass sie anderes als Maximalforderungen
nicht durch das Parlament bekommt?
Ondarza: Es gibt auf sie Druck aus zwei Richtungen: Auf der einen
Seite ist sie erpressbar durch die harten EU-Gegner innerhalb der
eigenen Partei. Selbst mit Unterstützung der nordirischen DUP hätte
sie nur eine Mehrheit von drei Sitzen im Unterhaus, muss also jeden
Abgeordneten ins Boot holen. Auf der anderen Seite gibt es aber jetzt
erstmals seit dem Referendum Druck von dem EU-freundlichen Flügel
ihrer Partei, der Großbritannien wenigstens nah am Binnenmarkt und
EU-Zollunion halten will. Es ist also wieder völlig offen, in welche
Richtung ihre Partei sie zwingt - und welche Verhandlungslinie London
damit verfolgt. May ist auf jeden Fall von einer Parteiführerin zu
einer Abhängigen geworden.
Dennoch beharrt sie darauf, Brexit und neues Handelsabkommen
parallel verhandeln zu wollen, obwohl die EU dies bereits abgelehnt
hat. Lebt sie tatsächlich in einer Parallelwelt, wie Jean-Claude
Juncker argwöhnte? Ondarza: Ich glaube, dass für die Briten ein
schwerer Realitätscheck bevorsteht. Selbst ein Jahr nach dem
Referendum geht es beim Stichwort Brexit immer noch in erster Linie
um das Management der Innenpolitik. Die Auseinandersetzung mit der EU
- die eine sehr einige Position einnimmt - hat noch gar nicht
begonnen. Auch deshalb wird es schwierig, ihre Regierung und die
Partei zusammenzuhalten. Denn wenn der Realitätscheck erfolgt ist,
muss London sich an schmerzhafte Kompromisse gewöhnen - sowohl beim
Ablauf der Verhandlungen als auch bei den Haushaltszahlungen an die
EU oder die Rechte der EU-Bürger auf der Insel.
Angetreten war May als Vertreterin eines mitfühlenden
Konservatismus. Sind die zwischenzeitlich erwogene Demenzsteuer und
die sozialen Einschnitte das Eingeständnis, dass der Brexit keinen
Verteilspielraum mehr lässt?
Ondarza: Sie hat in der Tat in ihrem von ihrem engsten Zirkel
gestrickten Parteiprogramm gezeigt, dass sie kein Gespür hat für die
Bedürfnisse der Bürger. Die sogenannte Demenzsteuer, also das
Vorhaben, ältere Menschen mit ihrem Vermögen einschließlich ihrer
Immobilien für ihre Pflege haften zu lassen, hat vor allem
konservative Wähler verschreckt. Ich bin überzeugt davon, dass es das
Wahlprogramm der Konservativen war, das sie die Mehrheit gekostet
hat.
Noch ist das Szenario nicht völlig ausgeschlossen, dass Jeremy
Corbyn eine Regierung bilden könnte. Der hat die EU zeitlebens als
dunkles Herz des Kapitalismus bekämpft. Also auch keine Verbesserung,
oder?
Ondarza: Labour ist unter Corbyn mit Sicherheit keine Kraft, die
eine Abkehr vom Brexit anstrebt. Das erkennt man schon daran, wie
halbherzig er sich für die EU-Mitgliedschaft eingesetzt hat und mit
welcher Energie er im Wahlkampf für soziale Ziele eintrat. Allerdings
hat Labour ohnehin keine realistische Option auf eine
Regierungsbildung. Sollte May sich nicht an der Macht halten können,
wird es einen anderen konservativen Premier geben oder Neuwahlen in
diesem Herbst.
Ex-Finanzminister George Osborne sieht in May eine "lebende
Leiche". Hat die "eiernde Lady" eine Chance, einem innerparteilichen
Putsch zu entgehen?
Ondarza: Ihr größtes Pfund ist jetzt, dass Großbritannien bei den
Brexit-Verhandlungen unter Zugzwang steht. Die Tories wissen, dass
sie sich jetzt einen großen innerparteilichen Machtkampf oder
Neuwahlen eigentlich nicht leisten können. Sobald es aber Spielraum
für einen solchen Putsch gibt, glaube ich nicht, dass May sich wird
halten können. Das Zutrauen der Partei zu ihr hat arg gelitten,
nachdem sie den Wahlkampf fast ausschließlich auf sich zugeschnitten
hatte - und damit eine krachende Niederlage einfuhr.
Wäre einem Premier Boris Johnson zu vermitteln, dass das
Wahlergebnis auf eine sinkende EU-Abneigung hinweist?
Ondarza: Es ist schwierig einzuschätzen, wer auf May folgen
konnte. Boris Johnson wird zwar immer genannt, aber auch seine
Glaubwürdigkeit hat in der Referendumskampagne gelitten. Ich glaube,
dass sich die Tories zunächst wieder selbst finden müssen. So wie
Boris Johnson einzuschätzen ist, würde er einen Putsch starten,
sobald er zu der Einschätzung gelangt, dass er Chancen auf
Parteivorsitz und Premierminister-Posten hat.
Die Uhr tickt, doch die Tories trödeln bei der Selbstfindung.
Spekulieren sie schon jetzt auf eine Fristverlängerung über den 29.
März 2019 hinaus?
Ondarza: Eine Fristverlängerung würde für die Briten auf jeden
Fall sehr teuer, da sie nur umzusetzen wäre, wenn alle anderen 27
EU-Staaten zustimmen. Und derzeit ist sich die EU auch darin einig,
den Brexit nicht auf ewig hinauszögern zu wollen. Einfache
Zugeständnisse darf London also eher nicht erwarten.
Wäre eine Verlängerung technisch überhaupt möglich? Auf den
eigentlichen Brexit-Termin folgen doch bald Europawahlen und die
Verabschiedung des neuen Finanzplanes.
Ondarza: Eine Verlängerung des Brexit-Prozesses um ein oder mehr
Jahre würde den gesamten Prozess über Bord werfen. Tatsächlich stehen
2019 Europawahlen an. Es wäre schwer vorstellbar, dass dann noch mal
britische Kandidaten aufgestellt werden für ein Land, das auf dem Weg
nach draußen ist. Die Haushaltsplanungen würden ebenso von einer
Hängepartie gestört, die niemand will. Die EU hat ein Interesse an
Klarheit angesichts ihrer anderen Baustellen: Euro-Zone, Grenzschutz,
Verhältnis zu Russland und den USA.
Wenn bei den traditionsverliebten Briten sogar das Datum für die
Queen's Speech wackelt, muss das Königreich nachdrücklich erschüttert
sein, oder?
Ondarza: Das größte Verdienst von Theresa May war bisher, das
Chaos und die Unsicherheit nach dem Referendum in Großbritannien zu
beseitigen. Und nun ist dieses Chaos aufgrund ihrer Fehler zurück. Es
ist unklar, welches Abkommen mit der DUP abzuschließen ist und wie
lange diese Regierung hält. Es ist unklar, was die Briten bei dem
Brexit als dem schwierigsten Unterfangen seit dem Zweiten Weltkrieg
eigentlich wollen.
Helfen die Verwerfungen, die der Brexit-Populismus auf der Insel
auslösen wird, dem Kontinent, seinen Bürgern den Wert der EU besser
zu vermitteln?
Ondarza: Es gibt definitiv ein Element der Schadenfreude in
Brüssel. Und man sieht derzeit deutlich, welche Schwierigkeiten
denjenigen erwarten, der aus der EU austreten will. Vor allem erkennt
man in den USA, aber auch in Großbritannien, dass Populisten an der
Macht erst mal wenige Erfolge erzielen können. Das stärkt natürlich
die EU, wie man auch an den Wahlen in Österreich, den Niederlanden
und Frankreich erkennen kann. Diese erstmals nach vielen Jahren
wieder positive EU-Stimmung müsste die Union allerdings auch nutzen,
um die tatsächlich vorhandenen Probleme auch anzugehen. Das ist -
jenseits des Brexits - eine Aufgabe für Frankreich und - nach den
Bundestagswahlen - Deutschland.
Das Interview führte Joachim Zießler
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