(ots) - Reporter ohne Grenzen (ROG) appelliert an den
Bundestag, das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz in seiner
aktuellen Form abzulehnen, um Schaden von der Presse- und
Meinungsfreiheit abzuwenden.
"Strafbare Inhalte in sozialen Netzwerken sind ein reales Problem
und sollten gelöscht werden. Aber dieser Gesetzentwurf vermischt ganz
verschiedenartige Rechtsprobleme, setzt auf untaugliche Mittel und
ist schlecht begründet", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr vor
der Anhörung zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen am (heutigen)
Montag im Rechtsausschuss des Bundestags, zu der als Sachverständiger
geladen ist (http://ogy.de/n290).
"Soziale Netzwerke sind längst zu wichtigen Werkzeugen der
Pressefreiheit geworden. Wer sie regulieren will, muss mit Augenmaß
vorgehen, um das Problem der intransparenten und willkürlichen
Löschpraktiken von Unternehmen wie Facebook nicht noch zu
verschärfen", sagte Mihr. "Deshalb sollte der Bundestag in der
kommenden Legislaturperiode einen grundlegend neuen Anlauf
unternehmen, um auf solider Datengrundlage und unter frühzeitiger
Einbeziehung der Zivilgesellschaft eine angemessene Regulierung zu
entwickeln."
Die ROG-Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen
von CDU/CSU und SPD steht unter http://ogy.de/9oxu zum Download
bereit. Weitere Materialien zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG)
wie die kritischen Stellungnahmen des UN-Sonderberichterstatters für
Meinungsfreiheit, David Kaye, und des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestags finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/themen/inter
netfreiheit/regulierung-sozialer-medien/.
SOZIALE NETZWERKE HABEN GROSSES FREIHEITSPOTENZIAL
Soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube und Twitter sind heute
wichtige Recherche- und Verbreitungswegen für Journalisten. In
Ländern wie China, der Türkei oder Vietnam ermöglichen sie es
Journalisten, die umfassende Zensur traditioneller Medien zu umgehen
und neue Kanäle zu finden, um trotz staatlicher Restriktionen
unabhängige Informationen zu verbreiten. Manche Nachrichtenportale
publizieren nur oder vor allem auf solchen Plattformen. Auch in
Deutschland sind Medienhäuser und Journalisten auf soziale
Plattformen angewiesen, um neue Verbreitungswege zu entwickeln und
trotz veränderter Gewohnheiten der Mediennutzung ihr Publikum zu
erreichen.
Dieses enorme Freiheitspotenzial droht beschädigt zu werden, wenn
Deutschland im Hauruckverfahren ein unausgereiftes Gesetz mit
gefährlichen Folgen für die Pressefreiheit in die Welt setzt, das zum
Präzedenzfall für neue Zensurgesetze in Ländern mit weniger
entwickeltem Rechtsstaat werden könnte.
IMMER WIEDER WERDEN JOURNALISTISCHE BEITRÄGE GELÖSCHT
Dabei wäre eine Regulierung sozialer Medien dringend nötig. Denn
schon heute entfernen soziale Netzwerke immer wieder journalistische
Inhalte und rücken allenfalls nach Protesten davon ab. So löschte
Facebook im vergangenen September einen Post der norwegischen Zeitung
Aftenposten, der das weltberühmte Foto des "Vietnam-Mädchens" zeigte,
das nackt vor einem Napalm-Angriff flieht (http://ogy.de/0g95). Im
Juni 2016 sperrte das soziale Netzwerk das Account des französischen
Journalisten David Thomson von Radio France International, der auf
dschihadistische Bewegungen spezialisiert ist und in einem älteren
Post ein Foto gezeigt hatte, auf dem eine Flagge des "Islamischen
Staates" zu sehen war (http://ogy.de/ufzx). Im März 2015 sperrte
Facebook das Account des US-Kunstkritikers Jerry Saltz, weil er
mittelalterliche Gemälde mit Folterszenen hochgeladen hatte
(http://ogy.de/1qwk).
In Myanmar geriet Facebook vergangenen Monat in die Kritik, weil
das Netzwerk plötzlich Beiträge sperrte, die das Wort "kalar"
enthielten - eine oft von nationalistischen Hetzern verwendete
abschätzige Bezeichnung für die muslimische Minderheit im Land
(http://ogy.de/8h2a). Das gleiche Wort kann aber auch in völlig
unverfänglichen Ausdrücken vorkommen oder in journalistischen
Artikeln über die Hetze von Nationalisten gegen Minderheiten
verwendet werden. Gelöscht wurde es trotzdem und automatisch
(http://ogy.de/dc56).
Solche Fälle zeigen, wie problematisch es ist, dass soziale
Netzwerke nach oft völlig undurchsichtigen Regeln in Eigenregie
entscheiden, bestimmte Beiträge zu löschen. Seit Jahren kritisiert
Reporter ohne Grenzen deshalb, dass zum Beispiel Facebook sich einer
ernsthaften Debatte über seine intransparente Löschpraxis verweigert.
Mit dem geplanten Netzdurchsetzungsgesetz will die große Koalition
diese private Rechtsdurchsetzung nun verschärfen, anstatt die
Löschpraktiken stärker an rechtsstaatliche Verfahren zu binden.
UNKLARE KRITERIEN, GEFÄHRLICHE SCHWAMMIGE FORMULIERUNGEN
Das geplante Gesetz soll soziale Netzwerke mit mehr als zwei
Millionen Nutzern in Deutschland verpflichten, "offensichtlich
rechtswidrige" Inhalte wie Volksverhetzung, Bedrohung, Beleidigung
oder üble Nachrede innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer
Beschwerde zu löschen, sonstige "rechtswidrige" Inhalte innerhalb von
sieben Tagen. Bei Verstößen droht das Gesetz verantwortlichen
Personen mit Bußgeldern von bis zu fünf Millionen Euro, die
betroffenen Unternehmen können mit bis zu 50 Millionen Euro belangt
werden.
Die Gesetzesbegründung stützt sich auf die vagen Begriffe
"Hasskriminalität" und "strafbare Falschnachrichten", deren
Bekämpfung "auch in Deutschland eine hohe Priorität" gewonnen habe.
Damit lehnt sie sich offensichtlich an die in der öffentlichen
Debatte geläufigen Begriffe "fake news" und "hate speech" an. Statt
sie jedoch klar zu definieren, verweist der Entwurf auf eine Reihe
bestehender Straftatbestände. Als Beleg nennt er eine einzige
Erhebung von jugendschutz.net, die auf begrenzter Datenbasis nur zwei
dieser Straftatbestände untersuchte, nämlich Volksverhetzung und das
Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
(http://ogy.de/aka8).
Warum und nach welchen Kriterien 22 weitere Straftatbestände in
das Gesetz aufgenommen werden sollen, ist nicht nachvollziehbar: Der
Entwurf kann nicht belastbar zeigen, bei welchen Delikten welche
Probleme in der Rechtsdurchsetzung auftreten. Für das vermeintliche
Problem "strafbarer Falschnachrichten" konnte das
Bundesjustizministerium auf Nachfrage von Journalisten kein einziges
Beispiel nennen (http://ogy.de/897q).
Das Gesetz soll laut Entwurf auch für "andere strafbare Inhalte"
gelten - eine schwammige und willkürlich auslegbare Formulierung, die
Spielraum für eine unverhältnismäßig breite Interpretation lässt. In
autokratisch regierten Ländern werden solche vagen Formulierungen
regelmäßig genutzt, um Grundrechte zu beschneiden.
Durch strenge Zeitvorgaben und die Androhung hoher Bußgelder birgt
das Gesetz die Gefahr, dass soziale Netzwerke in Zukunft übermäßig
Inhalte blockieren. Indem die Betreiber aus Angst vor Strafe in jedem
Fall rechtmäßig handeln wollen, könnten sie im Zweifel auch
journalistische Artikel oder Meinungsäußerungen löschen, bei denen
nicht abschließend geklärt ist, ob sie rechtswidrig sind oder nicht.
Über die Rechtmäßigkeit von Meinungsäußerungen müssen jedoch
unabhängige Gerichte entscheiden; keinesfalls darf diese Aufgabe noch
stärker an kommerzielle Unternehmen ausgelagert werden.
"HASSKRIMINALITÄT" UND "STRAFBARE FALSCHNACHRICHTEN
UNTERSCHIEDLICH BEHANDELN
Bedenklich ist außerdem, dass der Gesetzentwurf "Hasskriminalität"
ebenso behandelt wie "strafbare Falschnachrichten": Während es in
Fällen offensichtlicher "Hasskriminalität" geboten sein kann,
Beiträge schnell zu sperren, um Schaden vom demokratischen Diskurs
abzuwenden, ist die Prüfung angeblicher Falschnachrichten rechtlich
deutlich komplexer. Wenn Mitarbeiter sozialer Netzwerke fortan den
Wahrheitsgehalt von Informationen unter hohem Zeitdruck prüfen
sollen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch journalistische
Berichte löschen, die zum Beispiel aus Gründen des Quellenschutzes
Faktenbehauptungen enthalten, die nicht unmittelbar nachprüfbar sind.
Das Gesetz verpflichtet soziale Netzwerke auch zur Einführung so
genannter Inhaltsfilter - digitaler Systeme also, die online
gestellte Inhalte in Bruchteilen von Sekunden analysieren und
gegebenenfalls an allen verfügbaren Stellen löschen. Dies kann zur
Folge haben, dass Menschen bestimmte Inhalte faktisch nicht mehr
veröffentlichen können, obwohl sich keine juristische Instanz damit
auseinandergesetzt hat, ob deren Inhalt strafbar ist oder nicht. So
können zum Beispiel Rekrutierungsvideos der Terrororganisation
"Islamischer Staat" für sich genommen rechtswidrig sein. Wenn sich
Journalisten aber damit kritisch auseinandersetzen, kann es rechtens
und aus demokratischer Perspektive wünschenswert sein, solches
Material auszugsweise zu zeigen.
Wegen dieser und weiterer Mängel empfiehlt Reporter ohne Grenzen
dem Bundestag, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz insgesamt zu
verwerfen. In der kommenden Legislaturperiode sollte dann ein völlig
neuer Anlauf zur Regulierung sozialer Netzwerke genommen werden, in
den alle Stakeholder einbezogen werden müssen und für den zunächst
eine ernstzunehmende empirische Datengrundlage zu schaffen ist. Dabei
muss es nicht zuletzt darum gehen, die Unternehmen zu verbindlicher
Transparenz über ihre Löschpraktiken wie auch zu mehr Transparenz
über ihre Algorithmen zu bewegen.
PROTEST AUS DER GESELLSCHAFT
Reporter ohne Grenzen hat bereits Anfang April zusammen mit einer
breiten Allianz von Wirtschaftsverbänden, netzpolitischen Vereinen,
Bürgerrechtsorganisationen und Rechtsexperten in einer gemeinsamen
"Deklaration für die Meinungsfreiheit" vor den Auswirkungen des
Gesetzentwurfs auf die Meinungsfreiheit gewarnt (http://t1p.de/ryae;
http://deklaration-fuer-meinungsfreiheit.de).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland auf Platz
16 von 180 Staaten. Weitere Informationen zur Lage der Pressefreiheit
in Deutschland finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/deutschland.
WEITERFÃœHRENDE LINKS:
- ROG-Stellungnahme für die Anhörung im Rechtsausschuss des
Bundestags: http://ogy.de/9oxu
- Materialien zur NetzDG-Debatte: www.reporter-ohne-grenzen.de/the
men/internetfreiheit/regulierung-sozialer-medien/
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
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