(ots) - Ist die Hungersnot in Ostafrika Schicksal oder
Menschenwerk?
Jörg Angerstein: In erster Linie Menschenwerk. Hinzu kommt eine
Kombination von Faktoren, die krisenverschärfend wirken. Zum einen
interne Faktoren: Vertreibung von Bauern, Terror wie durch die Boko
Haram in Nigeria und Machtkämpfe verfeindeter Gruppen wie im
Südsudan. Zum anderen aber auch externe Faktoren: Etwa Versteppung
und Dürren durch Klimawandel und El-Nino-Effekt. Regenzeiten werden
kürzer oder fallen gleich ganz aus, Trockenperioden halten länger an.
In der Folge stirbt das Vieh, Lebensmittelpreise steigen, die
Menschen flüchten in die Städte. Hinzu kommen strukturelle Probleme,
etwa Landverknappung durch den uferlosen Zugriff internationaler
Investoren auf Acker- und Weidegrund. Das schwächt die Kleinbauern.
Sollte man Entwicklungshilfe strikt an good gouvernance koppeln?
Angerstein: Dann verlieren Sie die Menschen aus dem Blick, die
leiden. Es ist leicht zu fordern, sich die Staaten genauer
anzugucken, in die Hilfe geschickt werden. Sollen wir dem Sterben im
Südsudan so lange zusehen, bis dort tragfähige staatliche Strukturen
geschaffen werden? Das wäre menschenverachtend.
Entwicklungshilfe wird seit Jahrzehnten gewährt. Hat sie die Lage
überhaupt verbessert?
Angerstein: Entgegen dem üblichen Vorwurf an die Entwicklungshilfe
wurde tatsächlich schon sehr viel geschafft. Aber der Bedarf ist so
riesig angesichts von 20 Millionen Menschen, die vom Hungertod
bedroht sind, davon 1,4 Millionen Kinder. Laut UN bräuchte man allein
5,6 Milliarden US-Dollar, um nur die unmittelbar drohende Katastrophe
abzuwenden. Damit hat man noch keine Bedingungen geschaffen, die
langfristige Entwicklungshilfe auf fruchtbaren Boden fallen lassen
würde. Unsere Verantwortung im Westen ist angesichts dieser
gewaltigen Herausforderung groß, profitieren wir doch von einem
Wirtschaftssystem, das auf der Ausbeutung von Ressourcen beruht. Von
daher greift der Vorwurf nicht, da seien so viele Milliarden
versickert.
Ist es angesichts europäischer Fischtrawler, die die Fanggründe
vor Afrika leer fischen, nicht umso beschämender, dass wir Satten
immer erst aufmerksam werden, wenn im TV Bilder Verhungernder zu
sehen sind?
Angerstein: In der Tat ist es bizarr, im Senegal aus
Entwicklungshilfemitteln eine kleine Fischereiflotte aufzubauen,
während zugleich die hochindustrialisierten Fangflotten der Europäer
vor Westafrika die Meere leer fischen - um dann die ewige Wiederkehr
des Hungers zu beweinen. Der Rückschluss liegt nahe, dass unser
Wirtschaftssystem andernorts Hunger produziert. Es gibt genug Flächen
und ausgeklügelte Anbau-, Lagerungs- und Vermarktungsmethoden vor
Ort, um die Menschen zu ernähren. 70 Prozent der Afrikaner arbeiten
in der Landwirtschaft. Ihnen muss geholfen werden - etwa mit Saatgut,
das den schwierigen klimatischen Bedingungen gewachsen ist.
Stattdessen nehmen wir ihnen auch noch die Lebensgrundlagen. Die
Bauern der Welt produzieren ein Drittel mehr Kalorien als man
bräuchte, um alle Menschen zu ernähren. Ist Hunger auch ein
Verteilungsproblem, weil Kalorien oft zum Aufbau von Fleisch dienen?
Ganz sicher. Für die Herstellung von einem Kilo Rindfleisch werden
15.000 Liter Wasser benötigt. Zudem wirft jeder Deutsche jährlich im
Schnitt genießbare Lebensmittel im Wert von 230 Euro in den Müll. So
haben wir ein nebeneinander von verschwenderischer industrieller
Großlandwirtschaft und prekärer bäuerlicher Kleinwirtschaft in den
armen Ländern. Zudem exportieren wir auch noch subventioniertes
Fleisch und ruinieren so den dortigen Wirtschaftskreislauf. Das
Produzieren von Lebensmitteln ist zu einem Profit-Faktor geworden.
Das widerstrebt mir, weil Gewinn auf dem Rücken der Armen gemacht
wird. Das hat ein Geschmäckle ...
... das noch strenger wird angesichts preistreibender Aktivitäten
von Hedgefonds. Müsste Spekulanten der Zugriff auf Nahrungsmittel
grundsätzlich entzogen werden?
Angerstein: Ja. Jeder Mensch hat Anrecht auf Nahrung. Enthält man
ihm dies aus Profitinteresse vor, stimmt etwas nicht im System. Hier
muss ein Riegel vorgeschoben werden. Zumal es die Menschen in genau
den Ländern am härtesten trifft, die unter dem von den
Industriestaaten bewirkten Klimawandel am stärksten zu leiden haben.
Dass US-Präsident Trump jegliche Klimaschutzziele für sein Land in
den Wind schreibt, ist angesichts des Leids, das er so bewirkt,
pervers.
In die weltweiten Flüchtlingsströme reihen sich auch
Klimaflüchtlinge ein. Seit Beginn der Flüchtlingskrise ist in der
Entwicklungshilfe vor allem von Fluchtursachenbekämpfung die Rede.
Auch für terre des hommes der richtige Weg?
Angerstein: Fluchtursachenbekämpfung ist nur ein Modewort. Kein
Mensch verlässt seine geliebte Heimat ohne Not. Aber wenn Kriege,
Bürgerkriege und Klimawandel alle Möglichkeiten nehmen, dort zu
überleben, bleibt nur die Flucht. An diesem Punkt darf man nicht
verschweigen, dass Deutschland als Exporteur von Handwaffen
maßgeblich dazu beiträgt, dass solche Konflikte angeheizt werden.
2015 hat Deutschland noch für 32 Millionen Euro Kleinwaffen
exportiert, 2016 waren es sogar 47 Millionen. Und den Weiterverkauf
dieser Waffen kontrollieren wir nicht mehr. Für terre des hommes
bleibt das Leitbild, die Menschen in ihrer Heimat so zu unterstützen,
dass sie dort bleiben können.
Die tödlichste Grenze derzeit ist das Mittelmeer. Wie verändert
sich die Arbeit der Hilfsorganisationen, wenn durch die Migration die
Grenze zur Dritten Welt stetig näher rückt?
Angerstein: Beim Erdgipfel von Rio vor 25 Jahren wurde die eine
Welt beschworen. Jetzt müsste auch der letzte eingesehen haben, dass
wir tatsächlich diese eine Welt sind, dass Abschottung keinen Sinn
macht, die gemeinsame Entwicklung aller Länder aber sehr wohl. Dass
Menschen nach der Schließung der Balkanroute den gefahrvollen Weg
über das Meer wählen, sollte gerade in Deutschland mit seinen
Fluchterfahrungen aus dem vergangenen Jahrtausend besser verstanden
werden.
Der Klimawandel lässt den Wüstengürtel längs des Äquators wachsen.
Das bedroht die Kornkammern der Menschheit im Mittleren Westen der
USA, im südlichen Australien und im Norden Indiens. Torpediert die
Klimaerwärmung alle Konzepte gegen den Hunger?
Angerstein: Eine schwierige Frage. Tatsächlich macht der
Klimawandel viele Regionen unbewohnbar. In der Sahelzone finden
Bauern kein Auskommen mehr, der Tschad-See versteppt. In
Lateinamerika schmelzen Gletscher ab, lassen Gebirgsbäche zu
reißenden Strömen anschwellen. Unser Ansatz ist es, Bauern zum Anbau
von klimawandelresistenten Pflanzen zu bringen. Aber wir werden nicht
verhindern können, dass der Klimawandel den Hunger anwachsen lassen
wird. Zu viele Regionen werden unbewohnbar.
Fast 40 Prozent aller Klimakiller werden in Zusammenhang mit der
industrialisierter Lebensmittelproduktion in die Atmosphäre geblasen.
Wie kann man Klimaschutz und Kampf gegen Hunger versöhnen?
Angerstein: Sojafarmen in Argentinien und Brasilien als
Futtermittellieferanten für die Großviehhaltung treiben den
Teufelskreis natürlich an. Die hohen Ansprüche der Reichen an ihre
Nahrung führen zum Raubbau an den dortigen Ökosystemen. Intensive
Viehhaltung muss auf den Prüfstand gestellt werden, besser aber noch
gleich die Wirtschaftsphilosophie, die dieser zugrunde liegt. Bei uns
wird hochwertige Nahrung eindeutig zu billig gemacht. Hier muss ein
anderes Bewusstsein vom Wert der Lebensmittel und auch der richtigen
Ernährung entstehen. Wenn wir über Entwicklungspolitik sprechen,
müssen wir über uns selbst sprechen. Das meint der Begriff der einen
Welt. Wir tragen Verantwortung für unser Handeln, mit dem wir auf
andere Menschen einwirken. Wenn wir bei uns anfangen, haben wir eine
Chance, umzukehren. Das Interview führte Joachim Zießler
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