(ots) - Reporter ohne Grenzen (ROG) fordert die türkische
Justiz auf, die Anschuldigungen gegen 17 journalistische und sonstige
Mitarbeiter der unabhängigen Tageszeitung Cumhuriyet fallenzulassen.
Ihr Prozess beginnt am Montag (24. Juli) in Istanbul. Wegen der
Berichterstattung der Zeitung werden ihnen Verbindungen zu
verschiedenen "terroristischen" Gruppen vorgeworfen. Ihnen drohen bis
zu 43 Jahre Haft.
"Die Zeitung Cumhuriyet steht symbolisch für den mutigen Einsatz
der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in der Türkei. Eine
Verurteilung wäre ein verheerendes Signal und eine Schande für die
türkische Justiz", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Die
Cumhuriyet-Mitarbeiter müssen freigesprochen und zusammen mit allen
anderen in der Türkei inhaftierten Journalisten freigelassen werden."
INTERVIEWANGEBOT: ROG-Geschäftsführer Christian Mihr wird den
Prozess in Istanbul verfolgen und steht dort am Montag für Interviews
zur Verfügung. Zur Terminabsprache wenden Sie sich bitte an
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de, Tel: (030) 609 895 33 55.
Elf der 17 Mitarbeiter sind schon seit sieben bis neun Monaten in
Untersuchungshaft. Dazu gehören unter anderem der Chefredakteur Murat
Sabuncu, der Kolumnist Kadri Gürsel, der Karikaturist Musa Kart und
Bülent Utku, Vorstandsmitglied der Cumhuriyet-Stiftung. Sie wurden
Ende Oktober 2016 festgenommen (http://t1p.de/u80l). Der Herausgeber
der Zeitung, Akin Atalay, ist seit November inhaftiert. Polizisten
hatten ihn nach der Rückreise aus Deutschland am Flughafen in
Istanbul festgenommen (http://t1p.de/70e6).
Am 29. Dezember wurde der bekannte Investigativjournalist Ahmet
Sik verhaftet (http://t1p.de/d5jf), der ebenfalls gelegentlich für
Cumhuriyet geschrieben hat. Er saß bereits 2011 und 2012 ein Jahr im
Gefängnis, weil er den damaligen Einfluss der Bewegung des Predigers
Gülen innerhalb des Staatsapparats kritisiert hatte
(http://t1p.de/98z5).
Zu den weiteren inhaftierten Cumhuriyet-Journalisten gehören Önder
Çelik, Mustafa Kemal Güngör, Hakan Karasinir, Güray Tekin Öz und
Turhan Günay. Unter den Angeklagten sind zudem unter anderem der
76-jährige Kolumnist Aydin Engin, der wenige Tage nach der Festnahme
Ende Oktober aus Altersgründen freigelassen wurde und der
mittlerweile im Exil lebende ehemalige Chefredakteur Can Dündar. Den
17 Mitarbeitern drohen zwischen siebeneinhalb und 43 Jahren Haft.
ANKLAGESCHRIFT ERST FÃœNF MONATE NACH FESTNAHME
Erst Anfang April 2017 - rund fünf Monate nach der Inhaftierung
zahlreicher Mitarbeiter - wurde die Anklageschrift vorgelegt. Darin
wird ihnen die angebliche Unterstützung von terroristischen
Organisationen vorgeworfen, darunter die Bewegung des Exil-Predigers
Fethullah Gülen und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
Laut Anklageschrift soll sich die redaktionelle Linie von
Cumhuriyet "radikal verändert" haben, nachdem Can Dündar im Februar
2015 die Position des Chefredakteurs übernahm. Demnach habe die
Zeitung danach angeblich die Ziele dieser Organisationen unterstützt
(http://t1p.de/28af).
Dündar sitzt bereits in einem anderen Verfahren zusammen mit Erdem
Gül, dem Ankara-Büroleiter der Zeitung, wegen angeblicher
Unterstützung einer terroristischen Organisation auf der Anklagebank.
In einem weiteren Verfahren wurden Dündar und Gül bereits im Mai 2016
wegen vermeintlicher Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen in
erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. zu fünf Jahren
verurteilt (http://t1p.de/ztyr). Gegen das Urteil haben beide
Berufung eingelegt.
Ende Mai 2015 hatte die Zeitung Cumhuriyet Indizien für eine
Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an
Islamisten in Syrien veröffentlicht. Staatspräsident Recep Tayyip
Erdogan persönlich drohte daraufhin, Dündar werde einen hohen Preis
für die Veröffentlichung bezahlen und nicht ungestraft davonkommen
(http://t1p.de/vbq2). Dündar und Gül wurden Ende November 2015
verhaftet und saßen drei Monate in Untersuchungshaft
(http://t1p.de/m19k).
Mitte Juni verurteilte ein türkisches Gericht den CHP-Abgeordneten
und mutmaßlichen Informanten Enis Berberoglu wegen angeblicher
Spionage zu 25 Jahren Haft (http://t1p.de/8tlk). Er soll ein Video
über Waffenlieferungen an die Zeitung Cumhuriyet weitergegeben haben.
Dündar lebt mittlerweile im Exil in Deutschland. Reporter ohne
Grenzen hat ihn unter anderem mit einem Stipendium unterstützt.
Dündar hat das deutsch-türkische Online-Medium Özgürüz gegründet.
Seit fast einem Jahr wird seine Frau Dilek Dündar daran gehindert,
die Türkei zu verlassen.
HEXENJAGD AUF KRITIKER IN DEN MEDIEN
Infolge einer Twitter-Nachricht, die die Cumhuriyet-Redaktion nach
55 Sekunden wieder löschte, wird inzwischen auch der Online-Chef der
Zeitung, Oguz Güven, wegen Propaganda für die Gülen-Bewegung
juristisch verfolgt. Ihm drohen zehneinhalb Jahre Haft. Mitte Juni
wurde er nach einem Monat in Untersuchungshaft unter Auflagen
freigelassen (https://rsf.org/en/news/dire-year-journalists-under-sta
te-emergency-turkey).
Ein Jahr nach dem Putschversuch im Juli 2016 ist die Lage der
Pressefreiheit in der Türkei desolat. Die Regierung von Präsident
Recep Tayyip Erdogan hat den Ausnahmezustand für eine beispiellose
Hexenjagd auf ihre Kritiker in den Medien genutzt. Unter dem Vorwand,
gegen die Putschisten vorzugehen, haben Regierung und Justiz Dutzende
Medien geschlossen. Mit derzeit rund 165 Journalisten im Gefängnis
(http://t1p.de/c4pf) ist die Türkei das Land mit den meisten
inhaftierten Medienschaffenden weltweit. Rund 130 Medien bleiben
geschlossen.
Auch der langjährige Türkei-Korrespondent von Reporter ohne
Grenzen, Erol Önderoglu, sitzt auf der Anklagebank. Ihm wird wegen
der Teilnahme an einer Solidaritätsaktion für die mittlerweile
geschlossene pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem "Propaganda für eine
terroristische Organisation" vorgeworfen. Das Verfahren geht am 26.
Dezember weiter (http://t1p.de/k1n4).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz
155 von 180 Ländern weltweit. In den vergangenen zwölf Jahren hat
sich das Land um insgesamt 57 Plätze verschlechtert. Weitere
Informationen über die Lage von Journalisten vor Ort finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei.
WEITERFÃœHRENDE INFORMATIONEN:
- Video: ROG vor Ort - Bestandsaufnahme zur Lage der
Pressefreiheit ein Jahr nach dem Putschversuch:
https://youtu.be/aHWUMzh6wNA
- ROG-Projekt Media Ownership Monitor zur
Medienbesitzkonzentration in der Türkei (Oktober 2016):
http://turkey.mom-rsf.org (Zusammenfassung: http://t1p.de/9znz)
- ROG-Bestandsaufnahme sechs Monate nach Beginn des
Ausnahmezustands (25.1.2017): http://ogy.de/z98m
- Juristische Analyse: Fehlende parlamentarische Kontrolle über
Dekrete (Januar 2017): http://ogy.de/uw1d
- ROG-Bericht zu den Auswirkungen des Ausnahmezustands (September
2016): http://ogy.de/r30l
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29
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