(ots) - Der türkische Präsident Erdogan behauptet, die
Medien seien nirgendwo so frei wie in der Türkei. Sie waren als
Beobachterin beim Prozess gegen Journalisten der Zeitung Cumhuriyet.
Welchen Eindruck haben Sie mitgenommen?
Rebecca Harms: Dieser Prozess ist ein großer Schauprozess, um
diejenigen einzuschüchtern, die in der Türkei noch versuchen,
unabhängig ihre journalistische Arbeit zu machen. Der Druck auf
Journalisten und Presseunternehmen stieg allerdings schon lange vor
dem fehlgeschlagenen Putsch. Journalisten der Zeitung Hürriyet haben
mir vor dem Coup schon gesagt, dass selbst in Zeiten der
Militärdiktatur Journalisten nicht so drangsaliert wurden.
Muss man sich die nun ablaufenden Prozesse nach den Säuberungen
auch in der Justiz wie stalinistische Schauprozesse vorstellen?
Harms: Bereits die Absurdität der Anklage rechtfertigt die
Einschätzung, dass es ein Schauprozess ist. Die
Cumhuriyet-Mitarbeiter sind ja angeklagt, bewaffnete terroristische
Organisationen zu unterstützen, die PKK und die Gülen-Bewegung. Das
ist schon deshalb Irrsinn, weil Cumhuriyet links-liberal und national
eingestellt ist und sowohl gegen die islamische Gülen-Bewegung als
auch die kurdische PKK steht.
Reporter ohne Grenzen stuft die Türkei auf Rang 155 der
Pressefreiheits-Rangliste ein. Gibt es überhaupt noch eine freie
türkische Presse?
Harms: Gemessen an dem, was mal war, kann man nur noch von
Nischenmedien reden. Die wichtige, aber kleine Cumhuriyet erscheint
weiter, obwohl wichtige Mitarbeiter vor Gericht stehen, im Gefängnis
oder im Exil sind, wie etwa Can Dündar. Es gibt aber auch mutige, oft
junge Journalisten, die das Internet nutzen, um einen unabhängigen
Blick von innerhalb und außerhalb auf die Ereignisse in der Türkei zu
ermöglichen.
Im Fall Deniz Yücel wurde laut reagiert und auch nach der
Verhaftung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner. Es sitzen
aber 150 Journalisten als vermeintliche Staatsfeinde im Gefängnis,
2500 haben kein Auskommen mehr, weil ihre Medien verboten sind. Hat
die EU hierauf angemessen reagiert?
Harms: Tatsächlich ist die Türkei für Journalisten, die ihren
Beruf ernst nehmen und keine Propagandisten sein wollen, inzwischen
zum Albtraum geworden. Die EU und besonders das Europäische Parlament
haben die Auseinandersetzung mit der Türkei um Meinungs- und
Pressefreiheit auch schon vor der Eskalation gesucht, allerdings nie
in der Öffentlichkeit. Lange wurde versucht, diplomatisch hinter den
Kulissen Einfluss zu nehmen. Dieses freundliche Zureden verfing bei
der Regierung des NATO-Partners und EU-Beitrittskandidaten leider
nicht, anders als zuletzt die Androhung einer Reisewarnung oder die
Aussicht, deutsche Unternehmen würden sich weniger in der Türkei
engagieren.
Sind Putschversuch, den Erdogan als "Geschenk Gottes" bezeichnete,
und nachfolgende Säuberungen mit Reichstagsbrand und
Ermächtigungsgesetz vergleichbar? Harms: Ich bin zurückhaltend mit
Gleichsetzungen. Aber was seit dem Coup passiert, hat nichts mit
einer unbedingt notwendigen rechtsstaatlichen Aufklärung des Putsches
zu tun. Die Massenverfolgung von ungeheurem Ausmaß soll jede
Opposition und Rivalen kaltstellen und einschüchtern. Auf der Strecke
bleibt der türkische Rechtsstaat.
Welchen Staat strebt Erdogan zum 100. Jahrestag der Republik 2023
an? Das hat er schon mit dem Verfassungsreferendum offenbart, das er
durchgezogen hat und das die Anforderungen an freie und faire
Abstimmungen nicht erfüllt. Erdogan will einen Staat, in dem der
Präsident umfassende Machtbefugnisse hat, in dem die anderen
Institutionen - Parlament, Regierung und Justiz - dem Präsidenten
untergeordnet sind.
Auf Widerstand stößt Erdogan derzeit vor allem bei Frauen.
Frauen-Demos stoppten ein Gesetz, das Kinderehen erlaubt hätte, und
protestieren jetzt für freie Kleiderwahl. Zerschellt Erdogans
rückwärtsgewandte Vision an der in den Städten entwickelten
Zivilgesellschaft?
Harms: Ich hege allergrößte Bewunderung für den Widerstand gegen
Erdogans Pläne - gerade auch von Seiten der Frauen. Im
Cumhuriyet-Verfahren habe ich gesehen, wie mutig sich Ehefrauen und
Töchter der Eingesperrten engagieren und wie wenig sie sich
einschüchtern lassen. Verwunderlich ist dies nicht: Frauen fürchten
heute um ihre Männer und Väter. Und um ihre Rechte als Frauen, falls
die Türkei sich von der Säkularität abwendet. Wenn die EU jetzt ihre
Politik gegenüber der Türkei neu ausrichtet, darf nicht vergessen
werden, dass in dem Verfassungsreferendum über 48 Prozent gegen
Erdogans autoritären Kurs gestimmt haben. Wir dürfen die tapferen
Menschen nicht enttäuschen, die ihre Angst überwinden und für eine
demokratische Entwicklung eintreten und auf Länder wie Deutschland
und Frankreich hoffen.
Ist die Türkei nur noch wegen ihrer NATO-Mitgliedschaft als Brücke
zwischen Orient und Okzident anzusehen?
Harms: Die NATO-Mitgliedschaft darf auf keinen Fall gering
geschätzt werden. Und eine demokratische Türkei ist für die
Sicherheit der gesamten Region bedeutend. Wie sich dies
weiterentwickelt, ist schwer vorherzusagen. Der Streit um
Besuchsrechte bei Bundeswehrsoldaten zeigt, dass der türkische
Präsident nicht zum Einlenken bereit ist.
Erdogan in der Türkei, Órban in Ungarn, Kaczynski in Polen, die
"Lügenpresse"-Kampagne von Pegida und AfD ...
Harms: ... aber ich würde das nie gleichsetzen. Wir hatten in
Europa immer heftige Debatten über die Pressefreiheit in Italien
unter Berlusconi, später in Bulgarien und Ungarn. Um aktuelle
Beispiele Polen und Ungarn aufzugreifen: 150 Journalisten unter
fadenscheinigen Anschuldigungen ins Gefängnis zu stecken, würden die
Polen und die Ungarn ihren Regierungen niemals durchgehen lassen.
Eine Gleichsetzung dessen, was in der Türkei passiert, mit dem, was
in der EU passiert, ist falsch. Wichtig ist, dass wir uns mit
Nationalismus und dem wiederkehrenden Wunsch - in Teilen der
EU-Bürgerschaft - nach autoritären Männern an der Spitze von Staaten
auseinandersetzen. Und das tun wir. Derzeit führen wir eine
Diskussion angestoßen von Kommissionspräsident Juncker über die
Zukunft der EU auf Grund von 5 verschiedenen Szenarien. Eine ganz
wichtige Klärung ist, wie wir die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit
und Bürgerrechte so verankern, dass nicht einzelne Staaten der EU
sich davon verabschieden können. Populisten behaupten zwar immer,
Brüssel sei die allmächtige zentrale Schaltstelle der EU, die die
Mitgliedsstaaten unterjocht. Aber das ist nicht wahr. Ohne einen
einstimmigen Beschluss im Rat der Europäischen Union, den alle
Staats- und Regierungschefs mittragen, können wir uns zwar kritisch
mit der Regierung in Warschau auseinandersetzen. Aber harte
Instrumente zur Durchsetzung von Fundamenten des Rechtsstaates haben
wir nicht. Die fehlten uns zum Beispiel auch, als die spanische
Regierung quasi das Demonstrationsrecht abgeschafft hat. Ich arbeite
dafür, dass wir uns in der EU dazu ernst und dauerhaft verständigen.
Was wäre die rote Linie, bei der die EU die Beitrittsgespräche
abbrechen müsste?
Harms: Wir haben im Europäischen Parlament vor der Sommerpause
fraktionsübergreifend von EU-Kommission und Rat gefordert die
Gespräche zu suspendieren, wenn das Verfassungsreferendum umgesetzt
wird. Meine Wahrnehmung ist, dass Erdogan sein Land von der EU
wegführt. Außer den Journalisten sind heute Zehntausende von
Bürgerinnen und Bürgern eingesperrt, nur weil sie zu einer Bewegung
gehören. Noch mehr Menschen haben ihre Jobs verloren. Ihr Vermögen
wurde konfisziert und wird von Erdogan-Anhängern treuhänderisch
verwaltet. Wir steuern auf einen Punkt zu, an dem es absurd wird,
über eine EU-Mitgliedschaft zu verhandeln.
Welchen Anteil der Verantwortung trägt Europa, weil es über
Jahrzehnte den Beitrittsprozess nie ernsthaft betrieb und so nie
Reformen einfordern konnte?
Harms: Man kann nicht sagen, dass die EU über Jahrzehnte nicht
ernsthaft verhandelt hat. Schließlich gab es in der Türkei die Phasen
der Militärdiktatur und Phasen, in denen es in der Türkei keinen
einheitlichen Kurs in Richtung Beitritt gab. Das wurde erst anders,
als Erdogan Ministerpräsident wurde und die AKP auf einen strikt
pro-europäischen Kurs führte. Nach dem Beschluss zu
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vor zwölf Jahren gab es einige
Erfolge durch Verhandlungen. Aber die EU hat auch Fehler gemacht.
Einzelne Staaten haben sich gegen den Beitritt und gegen die
Verhandlungen gestellt, vorneweg Deutschland, Frankreich und
Österreich. Das war falsch, ist aber gewiss nicht allein ursächlich
für den Kurs von Präsident Erdogan.
Hat die türkische Entwicklung in Richtung Autokratie auch für Sie
das Moment des Tragischen? Sie wiesen darauf hin, dass Erdogan anders
gestartet war: Er drängte die Militärs zurück in die Kasernen,
startete die Aussöhnung mit Armeniern und ...
Harms: ... den Friedensprozess mit den Kurden.
Erdogan hatte die Hoffnung geweckt, dass er Demokratie und Islam
versöhnen wolle. Und nun?
Harms: Ich frage mich immer noch, was wir übersehen haben von dem,
was sich in der AKP entwickelte. Ich glaube nicht, dass wir das alles
hätten voraussehen können. Aber ich bin sicher, dass die EU schon in
dem Jahr vor dem gescheiterten Putsch besser auf falsche
Entwicklungen hätte reagieren müssen- vor allem auf die Beendigung
des Friedensprozesses mit den Kurden. Auch der Druck auf unabhängige
Medien hat lange vor dem Coup begonnen.
Das Interview führte Joachim Zießler
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