(ots) - Die Wähler fühlen sich allein gelassen und gekränkt.
Das ist das Ergebnis von 50 zweistündigen psychologischen
Tiefeninterviews, die das Kölner rheingold Institut vor der
Bundestagswahl zur Befindlichkeit der Deutschen durchgeführt hat.
"Die seelische Situation der Wähler ist kippelig", sagt Stephan
Grünewald. "Solches Wüten, so viel Hass bei den Probanden habe ich
noch nie erlebt." Gleichzeitig hätten die Menschen eine große
ungestillte Sehnsucht nach Sicherheit und Orientierung. Das führe zu
einem halbherzigen und angstgetriebenen Wahlverhalten. "Nutznießerin
sind vor allem 'Mutter Merkel' mit ihrem Stabilitätsversprechen und
der junge, durchsetzungsstarke FDP-Kandidat Christian Lindner mit
seinem politischen Sex-Appeal."
Die weiteren wichtigsten Ergebnisse der Studie:
- Das Misstrauen gegenüber Politikern wächst rasant. Der Wahlkampf
wird als Ablenkungsmanöver empfunden, um den wahren Problemen
auszuweichen.
- Deutschland wird trotz des Wohlstandes als verwahrlostes Land
mit maroden Schulen, No-Go-Areas, sozialer Ungerechtigkeit und
Geheim-Absprachen zwischen Politik und Industrie gesehen.
- Zwar sind viele Wähler unzufrieden mit Angela Merkel (CDU),
scheuen aber Veränderung aus Angst vor Instabilität.
- In der Wahlkabine werden sich die Wähler mit der Schönfärberei
der Politiker arrangieren, sie schwanken zwischen halbherzigen
Treue-Bekenntnissen zu Angela Merkel und kompensatorischen
Korrektur-Versuchen.
- Martin Schulz (SPD) wird der große Verlierer sein. Er füllt die
ihm zugedachte Rolle als zupackender Vater und Messias nicht
aus, sondern enttäuscht durch sein Auftreten als lieber Onkel
und Berater.
- Die Grünen haben es schwer. Die Wähler verbinden mit ihnen
"Dinkel und Dünkel" und finden das Thema Umwelt nicht so
wichtig.
- Christian Lindner (FDP) füllt die Lücke nach dem Schulz-Hype und
punktet vor allem im Team mit Mutter Merkel als der
umsetzungsstarke sexy Held.
- Die AfD wird als Sprachrohr der Bevölkerung erlebt, es fehlt ihr
aber eine berechenbare Leitfigur.
- Dieses Problem hat auch die LINKE, die aber ansonsten klar
konturiert wirkt.
Die Ergebnisse im Detail:
Die Wähler sind vom Wahlkampf enttäuscht. Sie erleben die
Schönfärberei und die austauschbaren Plakate als großes
Ablenkungsmanöver. Das für die Wähler wirklich drängende Thema die
Flüchtlingskrise wird komplett ausgespart. Für die meisten Wähler ist
die Flüchtlingskrise immer noch ein wunder Punkt, der von der Politik
noch nicht wirklich behandelt wurde.
Die Wähler können bis heute keine klare Haltung entwickeln zu dem
mit der Flüchtlingskrise verbundenen existentiellen Dilemma. Mache
ich die Tür für Fremde auf oder zu? Setze ich auf Neuerung oder auf
Besitzstandswahrung? Die Menschen wollen hilfsbereit sein und haben
gleichzeitig Angst, von den Fremden verschlungen zu werden, ihr Land
nicht wieder zu erkennen.
Die Wähler erwarten Orientierung in ihrem Dilemma
Die Wähler erwarten von der Politik einen Umsetzungsplan, klare
Leitlinien und sie wünschen sich Orientierung in ihrem Dilemma.
Unfreiwillig fühlen sie sich vor die Entscheidung gestellt, entweder
"Gutmensch" oder "Nazi" zu sein.
Die Wähler fühlen sich allein gelassen
Die Politiker haben es nicht geschafft, den Wählern in dieser
Zerrissenheit zu helfen. Sie fühlen sich daher im Stich gelassen. Das
Misstrauen gegenüber Politikern wächst rasant. Die Wähler fühlen sich
weder gehört noch verstanden, unter der Oberfläche brodelt und rumort
es. Das Misstrauen macht sich oft an Angela Merkel fest. Ist sie eine
Schutzheilige der Heimat oder ein internationaler Willkommens-Engel?
Wen liebt sie mehr - die eigenen Landeskinder oder die fremden
Kinder, die Einlass nach Deutschland begehren?
Das reiche Deutschland als im Innern verwahrlostes Land
Aber auch das Unbehagen im Land wächst. Deutschland wird trotz
seines Wohlstandes als verwahrlostes Land erlebt: Marode Schulen,
kaputte Autobahnen, No-Go-Areas, Geheim-Absprachen zwischen Politik
und Industrie, eine sich immer weiter öffnende soziale Schere, eine
zunehmend gefühlte Unsicherheit im Alltag, in dem die gewohnte
Selbstverständlichkeiten mehr und mehr verschwinden. Die
Flüchtlingskrise hat dabei das schon lange vorher vorhandene
Unbehagen in einer globalisierten Welt fassbar gemacht und weiter
zugespitzt.
Unzufriedenheit und Misstrauen artikulieren sich vor allem in den
sozialen Netzwerken. Hier hat das Toben und Wüten der Wähler eine
neue Dimension erreicht. Die eigene Ohnmacht wird hier mit
erbitterten Polarisierungen ausagiert. Die Kleinkriege und das
hasserfüllte Klima im Internet schüren aber auch die Angst vor einer
gesellschaftlichen Spaltung. Die Republik wird im Inneren als
instabil wahrgenommen - verstärkt durch das Gefühl der als
beängstigend erlebten äußeren Instabilität mit Brexit, Trump und
Erdogan.
Aus Angst vor dem Hass bremsen die Wähler sich selbst aus
Der hassvolle Volkszorn macht den Wählern Angst, dass in
Deutschland alles auseinanderfliegen kann. Diese Angst aktiviert bei
vielen eine Selbst-Bremsung. Sie verpflichten sich stillzuhalten, die
Verhältnisse nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. 'Nur nicht dran
rühren' lautet die insgeheime Devise: Mutter Merkel darf auf keinen
Fall verprellt und abgewählt werden, denn sie ist die Einzige, die
die wölfischen Despoten - Erdogan, Putin oder Trump - zur Räson
bringen kann. Zudem ist Deutschland ja trotz aller Mängel immer noch
das sicherste und erfolgreichste Land der Welt.
Angela Merkel - Bewährtes auf Bewährung
Letztendlich arrangieren sich die Wähler mit der Schönfärberei,
die die Politiker betreiben. Auch sie fressen Kreide. In der
Wahlkabine schwanken sie zwischen halbherzigen Treue-Bekenntnissen zu
Merkel und kompensatorischen Korrektur-Versuchen. Während für fast
alle Wähler der Sieg Merkels gesetzt ist, wollen vor allem die
Anhänger der kleineren Parteien ein Signal setzen, den Kurs der
Kanzlerin in die gewünschte Richtung zu korrigieren.
Ein starkes Team mit Mutter Merkel und sexy Lindner
Mit der FDP soll frischer Wind und Modernität in die Politik
einkehren. Die erfahrene Mutter Merkel und der junge Held Lindner
werden als bestes Team erlebt. Die wiedererstarkte Aktualität der FDP
macht sich vor allem an ihrem Parteivorsitzenden fest, über den die
Wähler viel lieber reden als über andere Politiker. Es herrscht
geradezu eine "Lindner-Geilheit". Viele Wähler entpuppen sich als
Fans, sie bekunden Bewunderung oder heimliche Verliebtheit. Er gilt
als jung und cool, der Frauentyp mit 007-Ausstrahlung. Die
FDP-Kampagne mit den unkonventionellen Privatfotos von Lindner fällt
durch ihre Modernität und Nähe auf. Sie bezieht Stellung, ohne
anzuecken. Trotz seiner "Selbstverliebtheit" wirkt Lindner
"staatsmännisch". Ein "Trudeau-Typ" oder "deutscher Macron", der
Durchsetzungsfähigkeit und Stärke verheißt. Christian Lindner füllt
derzeit die Lücke nach dem abgeflauten Schulz-Hype.
Martin Schulz ist der schon vor der Wahl gescheiterte Messias
Die SPD mit Martin Schulz wird der große Verlierer der Wahl sein,
weil der Kandidat die ursprüngliche Hoffnung auf eine
umsetzungsstarke Leitfigur nicht erfüllen kann. In der Skepsis rund
um Merkel kam im Frühjahr mit Martin Schulz jemand, der unverbraucht,
volksnah und zupackend wirkte. Der Europa-Politiker wurde als
rückgekehrter Vater erlebt, der endlich die Vätervakanz in der
deutschen Politik ausfüllen sollte. Ein Messias mit konkretem Plan,
den er auch umsetzen kann. Diese übersteigerte Erwartungshaltung
konnte der Mensch Schulz allerdings gar nicht einlösen. Nach der
Saarlandwahl merkte man, dass er keine Wunder wirken kann. Er füllt
in den Augen der Wähler die Rolle des zupackenden Vaters nicht aus,
sondern gilt als lieber Onkel und Berater. Die Zweifel an seiner
Durchsetzungskraft werden vor allem durch die Schulz-Plakate genährt.
"Er guckt in die Luft wie ein Traumtänzer."
Die AfD kanalisiert das Wüten der Wähler
Die AfD soll sicherstellen, dass Merkel die Tür nicht wieder für
die Fremden öffnet und die deutschen Werte verrät. Die AfD wird oft
als Arbeiterpartei erlebt, als Sprachrohr der Bevölkerung: "Die
artikulieren etwas ohne Aber." Ihre Vertreter beziehen als einzige
Stellung, und "sie sind für Volksentscheide". Die AfD verspricht die
Befreiung von den Fremden und dem Befremden im eigenen Land - durch
rigide Abschottung, nationalen Egoismus und eine Rolle rückwärts in
die Beschaulichkeit der alten Bundesrepublik: "Die ändern was. Denn
die sind gegen Frauenquote, Flüchtlinge und Homo-Ehe." Erst einmal
sollen alle Deutschen einen Arbeits-oder Kindergartenplatz bekommen.
Trotz ihrer radikalen Standpunkte im Osten gilt die AfD nicht als
eine rechtsradikale Partei wie etwa die NPD. Die AfD kanalisiert zwar
das Wüten der Wähler, aber ihr fehlt eine berechenbare Leitfigur. Es
war daher aus Sicht der AfD ein Fehler, Frauke Petry auszubooten. Die
beschriebene Selbstbremsung der Wähler führt auch dazu, dass die AfD
allenfalls die drittstärkste Partei werden wird.
Die Wähler wollen sich von den Grünen nicht bevormunden lassen
Die Grünen werden es schwer haben. Sie haben ihre Markanz und ihre
Leitfiguren verloren. Das Thema Umwelt ist für die Wähler derzeit
nicht so relevant. Innere Sicherheit, persönlicher Wohlstand und
soziale Gerechtigkeit sind wichtiger. Viele Bürger sehen die grüne
Agenda zum Teil schon als erfüllt an: "Wir sind doch in Deutschland
sowieso schon vorbildlich. Der Müll wird getrennt, und die
Plastiktüten sind verschwunden." Mit den Grünen verbinden die
Menschen daher nicht wie in der Gründerzeit der Partei Natur und
Lebensfreude, sondern "Dinkel und Dünkel": Bevormundung in Fragen der
Ernährung oder der Mobilität, erdrückende moralische Überlegenheit.
Der Kampf der Grünen für die Natur richtet sich zu oft gegen die
eigene menschliche Natur. Selbst ihre Stammwähler bekunden, die
Grünen allenfalls aus Gewohnheit noch einmal zu wählen.
Zweifel am Regierungswillen der LINKE
Die LINKE wird im Wahlkampf als klar konturiert erlebt. Sie tritt
entschieden und glaubhaft für soziale Gerechtigkeit ein. Sie hat die
Belange der kleinen Leute im Blick und zeigt das stärkste soziale
Engagement. Zumindest hat sie die meisten Wähler noch nicht konkret
enttäuscht. Allerdings wissen die Wähler auch nicht, ob sie überhaupt
regieren will und ob sie ihre Forderungen auch umsetzen kann. Vor
allem auf ihren Plakaten wirkt sie sehr dogmatisch. Sie setzt auf
Parolen, die als radikal und einseitig erlebt werden. Das schürt die
Zweifel der Wähler, ob die LINKE Gemeinsinn und verlässliche
Verbindlichkeit herstellen kann. Ihr fehlt nicht nur auf den Plakaten
eine Beziehungs-Qualität, eine verbindliche Leitfigur. Während Gregor
Gysi noch als Politiker erlebt wurde, der durch Humor und Intellekt
etwas Verbindendes hatte, wird Sahra Wagenknecht durch ihren harten
und unerbittlichen Tonfall als polarisierend erlebt.
Das rheingold Institut hat vor der Wahl eine Tiefenanalyse der
deutschen Befindlichkeit vorgenommen und fünfzig Wähler auf die Couch
gelegt. Sechsundzwanzig in psychologischen Tiefeninterviews und die
anderen in drei Gruppendiskussionen. Ein siebenköpfiges
Psychologenteam war im Osten und Westen unterwegs. Zudem wurden in
einer Social Media Analyse über 90.000 Beiträge zur Bundestagswahl
ausgewertet.
Pressekontakt:
Max Schulte
Mail: praktikant-schulte(at)rheingold-online.de
Telefon: 0221 912 777658
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