(ots) - Ich muss gestehen: Heiner Geißler war für mich
lange Zeit eine negative Reizfigur. Das lag nicht nur, aber vor allem
an zwei polemischen Sätzen in der Nachrüstungsdebatte der frühen 80er
Jahre. Da war zunächst Geißlers Versuch, die SPD als "fünfte Kolonne"
des Ostblocks zu diffamieren. Als deutlich schlimmer noch empfand ich
seine Bemerkung, der Pazifismus der 30er Jahre habe Auschwitz erst
möglich gemacht. Dieser Spruch ausgerechnet aus dem Mund eines
CDU-Politikers, in dessen Partei ehemalige Nazis wie Hans Globke,
Kurt Georg Kiesinger und Hans Filbinger eine steile Karriere machen
konnten, war in meinen Augen eine unverzeihbare Ungeheuerlichkeit,
eine dreiste Verantwortungsverschiebung. Als die sozialdemokratische
Ikone Willy Brandt ihn etwas später den größten Hetzer seit Goebbels
nannte, habe ich nicht nur innerlich applaudiert. Vielleicht hat
Geißler seinen Satz in den vergangenen Jahren bereut. Darauf
angesprochen, druckste er meist heftig herum. Alte Fehler zuzugeben,
ist gerade für Politiker offenbar nicht so einfach. Doch zu diesem
Zeitpunkt hatte sich mein Bild von ihm bereits radikal geändert. Mag
sein, dass es mir vorher nur nicht aufgefallen war: Aber plötzlich,
seit Beginn des neuen Jahrtausends, entpuppte sich Geißler als
wortgewaltiger Kämpfer gegen den neoliberalen Raubtierkapitalismus.
Mit der gleichen Verve, mit der er als CDU-Generalsekretär den
politischen Gegner attackiert hatte, stürzte sich Geißler nun auf ein
Wirtschaftssystem, in dem der "Shareholder Value", also die
Interessen von Kapitaleignern, zum Maß aller Dinge geworden war, die
Arbeitnehmer hingegen nur noch als Kostenfaktoren wahrgenommen
wurden. Seine Kritik daran war fundamental, ging weit über den von
Parteien rechts der Mitte gerne propagierten "mitfühlenden
Konservatismus" hinaus. Natürlich musste man auch in seinen letzten
Jahren mit Geißler nicht immer einer Meinung sein. Aber klar war:
Hier steht ein Mann, der altersweise geworden ist und Prinzipien hat.
Hier steht ein Mann, für den das "C" im Namen seiner Partei nicht nur
Folklore ist. Hier steht ein Mann, der sich der katholischen
Soziallehre tatsächlich verpflichtet fühlt, der sich für die
wirtschaftlich Schwächeren einsetzt, der ernsthaft einen fairen
Ausgleich zwischen Kapitalinteressen und Arbeitnehmern anstrebt. Dass
Geißler als einer von wenigen Christdemokraten versuchte, die soziale
Marktwirtschaft gegen die Angriffe des globalisierten Finanzkapitals
zu verteidigen, brachte ihm großen Respekt und viele neue Anhänger
gerade unter ehemaligen politischen Gegnern ein. In seiner eigenen,
vom neoliberalen Bazillus heftig infizierten Partei wurde er hingegen
zunehmend zum Außenseiter. Viele Christdemokraten stöhnten zuletzt
nur noch genervt auf, wenn Geißler sich zu Wort meldete. Darüber
können auch die zahlreichen Würdigungen aus Anlass seines Todes nicht
hinwegtäuschen. Geißler blieb bis zuletzt ein temperamentvoller
Mahner, ein Streiter mit Rückgrat und ein Impulsgeber von hoher
Glaubwürdigkeit. Er wird fehlen. Sehr fehlen. Nicht nur seiner
Familie und seinen Freunden, sondern auch seiner Partei. Denn ein
Politiker mit ähnlichen Grundsätzen wie Geißler ist in der CDU weit
und breit nicht in Sicht. Die Lücke, die er hinterlässt, ist
gewaltig.
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