(ots) - Der 24. September 2017 markiert das vorläufige
Enddatum einer wohltemperierten, konsensgeprägten
Nachkriegs-Republik. Das Land rückt nach rechts.
Mit unüberhörbarem Lärm und mehr als 80 Abgeordneten zieht eine
Partei in den Bundestag ein, die sich als Anti-Establishment
profilierte, dabei Ressentiments gegen Fremde schürte und den Konsens
der Demokraten umdefinieren möchte, dass die Erinnerung an den
Holocaust nur eine der Scham und der Verantwortung für ein "Nie
wieder" sein kann. Traurig!
Diese Verschiebung der politisch-kulturellen Tektonik in der
Republik wird sich die große Koalition, allen voran die
Bundeskanzlerin anheften lassen müssen. Angela Merkel, die alte und
neue Kanzlerin, hat diesem Land gutgetan, es sicher, souverän und
maßvoll durch Finanz- und Weltkrisen gesteuert. Sie hat aber auch das
konservative Bürgertum entkernt und sich selbst in zentralen Fragen,
von der Energiewende bis zur Ehe für alle, als politisches Chamäleon
geoutet.
Mit ihrer ethisch einwandfreien Flüchtlings-Entscheidung im Sommer
2015 hat sie Deutschland einen moralischen Kompass gegeben. Nur hat
sie es versäumt, in den Jahren danach dem Gefühl des Kontrollverlusts
und der Unsicherheit in Teilen der Bevölkerung entgegenzuwirken. Auch
durch verdruckste Rhetorik und die großkoalitionäre Neigung,
Minimalkompromisse zu treffen, haben Union und SPD verloren.
Der rechte Rand erstarkt, die politische Mitte wird durch die FDP
wiedererweckt, die SPD verliert ihren Volkspartei-Nimbus und steht
wieder einmal vor dem Umbruch. Martin Schulz hat gekämpft und
versagt. Wer sich von der Parteilinken eine Agenda-Korrektur
aufzwingen lässt, dann nicht gegen Rot-Rot-Grün Stellung bezieht, wer
über die inhaltlich flexible CDU-Kanzlerin jammert, ihr aber in
zentralen Themenfeldern recht gibt, darf sich über eine herbe
Niederlage nicht wundern. Die SPD will ihren Neuanfang wohl in der
Opposition organisieren, mit Andrea Nahles an der Spitze. Vielleicht
ist es die Parteilinke, die mit einem pragmatischen Kurs die SPD
zurückbringt.
Die Grünen können überraschend ihr Ergebnis von 2013 leicht
steigern und dürften deshalb eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP
und Grünen mit Selbstbewusstsein anstreben.
Die FDP ist neben der AfD die Gewinnerin des Abends. Der smarte
und redegewandte Vorsitzende Christian Lindner hat die Partei optisch
entstaubt, aber auch inhaltlich mit den Themen Digitalisierung und
Bildung gestärkt. Junge Individualisten aus Berlin-Mitte sammeln sich
bei der FDP genauso wie der grau melierte Mittelständler aus
Ostwestfalen. Auch das ist eine Leistung.
Und nun? Ein Bündnis aus Union, Grünen und FDP ist ein Wagnis. Wie
sollen Liberale und Grüne in der Klima- und Energiefrage Konsens
finden? Die Wunden, auch zwischen CSU und Grünen, sind tief.
Angela Merkel wird Moderatorin eines Dauerkonflikts sein, kaum
Antreiberin. Dabei sehnen sich Konservative nach CDU pur. Und: Die
Republik bräuchte eigentlich einen mutigen Aufbruch. In der
Sicherheitspolitik, wo Naivität und Behördenegoismen den Kampf gegen
den Terror von NSU bis Amri behinderten. In der Bildungspolitik, wo
die soziale und ethnische Herkunft für den Aufstieg immer noch
wichtiger ist als Talent. 50.000 junge Menschen verlassen ohne
Abschluss die Schulen; diejenigen, die in den Schulen sind, erleben
antiquierte Lehrmethoden.
In der Wirtschaftspolitik dominieren Bürokratismus und
Reformunwille. Die Sozialpolitik wird von populistischer
Verklemmtheit geprägt. Kinder, die heute geboren werden, werden im
Schnitt 100 Jahre alt. Warum darf man dann nicht über die Rente mit
70 reden?
Es gibt also viel zu tun. Ob Angela Merkel in ihrer vierten
Amtszeit die Kraft dafür hat und das passende Bündnis, steht in den
Sternen.
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