(ots) -
"In den vergangenen zwei Jahren ist deutlich geworden, wie
ungeschützt die EU-Agrarmärkte mittlerweile den Kräften des
Weltmarktes ausgesetzt sind. Dadurch ist auch die
Wettbewerbssituation unserer Land- und Agrarwirtschaft erheblich
verändert worden", erklärte Manfred Nüssel, Präsident des Deutschen
Raiffeisenverbandes (DRV) bei der Mitgliederversammlung in Hannover.
Die Folgen der fortschreitenden Liberalisierung wurden zunächst
durch relativ stabile Verhältnisse an den europäischen Märkten nach
2005, vor allem aber durch die Hausse bei den Agrarpreisen 2007/2008
überdeckt. Erst die massiven Preisrückgänge 2008/2009 offenbaren nun
die Effekte der Marktliberalisierung. Hinzu kommt die immer engere
Verflechtung mit anderen Rohstoff- und Finanzmärkten, wie sich in der
weltweiten Wirtschaftskrise gezeigt hat. Die Land- und
Agrarwirtschaft bekommt die Folgen schmerzhaft zu spüren. 2009 gingen
die Umsätze der 2.675 genossenschaftlichen Unternehmen um 11,1
Prozent auf 38,4 Mrd. Euro (Vorjahr 43,2 Mrd. Euro) zurück.
"Das heißt für die Unternehmen: In diesen neuen Marktbedingungen
liegen durchaus Chancen, aber auch rasant steigende Geschäftsrisiken.
Preisentwicklungen sind nur noch schwer kalkulierbar. Das stellt
höchste Anforderungen an das Management und die Risikovorsorge", so
Nüssel.
Die EU-Marktordnungen sind in ihrer Wirksamkeit deutlich
eingeschränkt worden. Die Sicherheitsnetze in den Marktordnungen
hängen inzwischen extrem tief und haben auch die Funktion einer
nachhaltigen Preisuntergrenze im Wettbewerb mit Industrie und Handel
verloren. Land- und Agrarwirtschaft müssen nun weitgehend ohne diese
Orientierungshilfen arbeiten. Rad der Selbstorganisation nicht neu
erfinden
Die wirtschaftlichen Folgen des Rückzugs der Politik aus der
Marktverantwortung haben inzwischen bei den Verantwortlichen auf
europäischer und nationaler Ebene Betroffenheit ausgelöst. Sie
unternehmen auf EU-Ebene verstärkt Aktivitäten zur Steigerung der
Wettbewerbsfähigkeit in der Lebensmittelkette. Die Auffassungen über
geeignete Instrumente gehen aber zwischen den Mitgliedstaaten weit
auseinander. "Dies ist bei den weiteren Ãœberlegungen zu
berücksichtigen und schließt die Vorgabe von Einheitslösungen für die
EU aus", so Nüssel.
Derzeit legen sowohl die EU-Kommission als auch nationale
Institutionen wie das Bundeskartellamt ihr Augenmerk auf die
Verbindung zwischen den Erzeugern und der nachfolgenden Marktstufe.
Diese ist in Deutschland traditionell sehr stark von
genossenschaftlichen Unternehmen geprägt, insbesondere in der
Milchwirtschaft.
Das Bundeskartellamt hat nach der Erzeugerpreiskrise den
Milchmarkt unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet
und Anfang 2010 einen Zwischenbericht zu seiner Sektoruntersuchung
Milch vorgelegt. "Manche Aussagen zur Funktionsweise und Rolle der
Genossenschaften am Milchmarkt haben wenig mit der Realität zu tun.
Sie konstruieren Gegensätze zwischen den Mitgliedern und ihren
genossenschaftlichen Unternehmen. Der Einfluss der Erzeuger auf ihr
Unternehmen und dessen Ausrichtung wird zu Unrecht in Zweifel
gezogen", kritisierte Nüssel.
Zwischen dem Erzeuger und seiner Genossenschaft liegt keine
Marktstufe, da beide eine Einheit bilden. Der Milcherzeuger - das
gilt auch für die Landwirte in anderen Sektoren - hat mit seiner
Genossenschaft eine Förderbeziehung. Er hat Mitbestimmungsrechte und
Verantwortung in seinem Unternehmen. Die zurückliegenden, schwierigen
Jahre haben gezeigt, dass viele in der Milchsektoruntersuchung
angesprochene Kritikpunkte nur gefühlte Einzelmeinungen sind. Dazu
gehören insbesondere Fragen der Lieferbeziehung und der
Kündigungsfristen. Die überwiegende Mehrheit der genossenschaftlichen
Milcherzeuger hält an ihrem Unternehmen und den Grundsätzen fest; es
wird durch demokratische Entscheidungen gelenkt.
"Die eingetragene Genossenschaft ist der klassische
Erzeugerzusammenschluss. Ich unterstreiche dies so deutlich, weil es
in der aktuellen Diskussion immer wieder Ansätze gibt, das Rad der
Selbstorganisation der Landwirte zur Stärkung ihrer Marktposition neu
zu erfinden", betonte Nüssel.
Nachhaltige Produktion
Intensiv setzen sich die Genossenschaften mit dem Thema
Nachhaltigkeit auseinander. Nach dem Scheitern des Kopenhagener
Klimagipfels Ende 2009 ist die Sensibilität für die Problematik des
Klimawandels gewachsen. Die Unternehmen werden durch Öffentlichkeit
und Marktpartner zunehmend mit Forderungen nach einer nachhaltigeren
Wirtschaftsweise und deren Nachweis konfrontiert. Dabei steht
gegenwärtig die CO2-Reduzierung im Vordergrund.
In der EU wurden im Zusammenhang mit der Biomasse für erneuerbare
Energien Nachhaltigkeitskriterien definiert. Diese beinhalten im
Wesentlichen die Einhaltung von Cross Compliance-Auflagen und den
Schutz von sensiblen Naturräumen. Das soll über eine Zertifizierung
nachgewiesen werden, der sich alle Unternehmen ab der Stufe der
Ersterfassung unterwerfen müssen.
Durch intensive politische Arbeit hat der DRV entscheidend dazu
beigetragen, dass das nationale Inkrafttreten der Verordnungen
europakonform auf den 1. Januar 2011 verschoben wurde. "Das ist zwar
immer noch ein sehr enges Zeitfenster, aber die betroffenen
Unternehmen erhalten nun mehr Zeit zum Aufbau von
Zertifizierungsstrukturen, und eine EU-weite Harmonisierung
hinsichtlich des Zeitpunktes für das Inkrafttreten ist
gewährleistet", betonte Nüssel.
Daneben hat der DRV die unternehmerische Initiative ergriffen und
gemeinsam mit anderen Verbänden der Agrar- und
Biokraftstoffwirtschaft ein wirtschaftseigenes Zertifizierungssystem
- REDcert - auf den Weg gebracht, das inzwischen von der
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) anerkannt wurde.
"Damit wird den DRV-Mitgliedern eine auf ihre Strukturen
zugeschnittene Lösung für diese neue Aufgabe geboten. Das schafft
Akzeptanz und fördert zugleich den Wettbewerb", hob Nüssel hervor.
Gentechnik: Schluss mit Agrarromantik
"Der aktuelle Fall vermeintlicher Mikrospuren von gentechnisch
verändertem Mais in Saatgut zeigt einmal mehr, dass wir uns auf einem
Markt mit globalen Warenströmen nicht von weltweiten Entwicklungen im
Bereich Grüne Gentechnik abschotten können. Aufgrund unserer
Abhängigkeit von Rohstoffimporten benötigen wir unverzüglich eine
praktikable Lösung für den Umgang mit Spureneinträgen nicht
zugelassener GVO in Futtermitteln, Lebensmitteln und Saatgut. Wir
erwarten von der Bundesregierung, dass Deutschland den Ankündigungen
im Koalitionsvertrag nachkommt und sich in Brüssel aktiv für eine
zügige Lösung des Problems einsetzt. Andernfalls drohen ab Herbst
2010 erneut massive Restriktionen bei der Rohstoffeinfuhr", warnte
Nüssel.
In den letzten Jahren hat sich klar gezeigt, dass eine
fortschrittsorientierte Gentechnik-Politik in Deutschland durch die
vorherrschende Illusion einer gentechnikfreien Agrar- und
Ernährungswirtschaft verhindert wird. Gefördert wird diese Illusion
dadurch, dass der Großteil der routinemäßig in der Lebens- und
Futtermittelwirtschaft eingesetzten gentechnischen Verfahren am
Lebensmittel nicht kenntlich gemacht werden muss.
"Deshalb begrüße ich den Vorstoß von Bundesministerin Ilse Aigner,
die Kennzeichnung auf europäischer Ebene auf alle
Gentechnik-Anwendungen bei Lebensmitteln auszuweiten", so Nüssel. "Wo
Gentechnik drin ist, muss dies auf der Verpackung auch erkennbar
sein. Die agrarromantischen Vorstellungen müssen ein Ende haben. Eine
einseitige Ausweitung der Kennzeichnung allein auf tierische
Lebensmittel, die unter Einsatz gentechnisch veränderter Futtermittel
erzeugt wurden, lehne ich allerdings konsequent ab. Umfassende
Verbrauchertransparenz kann nur entstehen, wenn sämtliche Produkte
einschließlich pflanzlicher und zusammengesetzter Produkte, in deren
Herstellungsprozess Gentechnik zum Einsatz kam, in die Kennzeichnung
aufgenommen werden", betonte der DRV-Präsident.
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Monika Windbergs
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