(ots) - Neun Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes hat das
Ansehen des Westens in der afghanischen Bevölkerung ein Allzeittief
erreicht. In der sechsten repräsentativen Umfrage von WDR/ARD, ABC,
BBC und "Washington Post" bewertet nicht einmal mehr jeder dritte
Afghane das Engagement von USA und NATO positiv, während zwei drittel
der Bevölkerung den Verbündeten ein negatives Zeugnis ausstellen.
Besonders dramatisch ist der Sympathieverlust der Deutschen im
Nordosten des Landes, dem Einsatzgebiet der Bundeswehr.
"Bei der letzten Umfrage vor knapp einem Jahr hatten wir erstmals
seit langem wieder eine vorsichtige Aufbruchsstimmung unter den
Afghanen feststellen können. Doch die Hoffnungen auf eine Wende zum
Besseren wurden in weiten Teilen des Landes drastisch enttäuscht",
fasst Arnd Henze, der als stellvertretender Auslandschef des WDR die
Umfrage betreut hat, die Kernbotschaft zusammen.
Keine Jobs, kein Geld für Lebensmittel und Heizöl
Sorgen macht den Afghanen vor allem die anhaltende Gewalt im Lande
sowie die wirtschaftliche Lage, die sich im vergangenen Jahr in
vielen Bereichen dramatisch verschlechtert hat. Das betrifft vor
allem den Mangel an Jobs und fehlende Möglichkeiten, sich eine eigene
wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Nur noch jeder Dritte (- 7 auf
33 %) beschreibt seine eigene Situation in diesem Bereich als mehr
oder weniger gut, während 66 % (+ 10 %) der Menschen ihre Lage düster
sehen. Auch für die kommenden Monate rechnen nur 22 Prozent der
Befragten damit, dass sich ihr wirtschaftliches Auskommen verbessern
wird.
Diese negative Entwicklung lässt sich vor allem im wichtigsten
Wirtschaftszweig des Landes beobachten: der Landwirtschaft. Immer
weniger Menschen können sich Saatgut, Dünger und Geräte leisten, um
ihre Felder zu bestellen. Nur noch 34 % (-11 %) sehen ihre
Möglichkeiten in der Landwirtschaft positiv.
Ohne einen Job kann sich die große Mehrzahl der Afghanen selbst
die notwendigsten Dinge zum Leben nicht leisten. Zwar gibt es in
vielen Orten fast alles auf den Märkten zu kaufen, aber nur 44 % (-5
%) können die teuren Preise für Lebensmittel auch bezahlen. Gleiches
gilt für Öl, das vor allem im bitterkalten Winter zum Heizen und zum
Betreiben von Generatoren unverzichtbar ist. Deutlich verschlechtert
haben sich auch der Zugang zu sauberem Wasser (- 5 % auf 59 %), die
Rechtslage der Frauen (- 11 % auf 52 %) sowie die Bewegungsfreiheit
im Lande (- 8 % auf 58 %).
"Die Menschen bewerten ihre Situation anhand von sehr konkreten
Veränderungen", meint Arnd Henze. "Als sich vor einem Jahr die
Stromversorgung in einigen Teilen des Landes spürbar verbesserte,
hofften die Menschen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung. Aber es
kam nichts nach - im Gegenteil: der Wiederaufbau des Landes stagniert
trotz aller Versprechen des Westens".
Internationale Hilfe versickert im Sumpf der Korruption
Entsprechend kritisch fällt das Urteil über die Arbeit
internationaler Hilfsorganisationen aus, deren Tätigkeit nur noch von
43 % (- 7 %) der Befragten insgesamt positiv gesehen wird. Gerade
einmal die Hälfte der Afghanen meint, ausländische Unterstützung
werde "überwiegend sinnvoll" eingesetzt, 67 % der Menschen sind
überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gelder in dunklen Kanälen
lande und die Bevölkerung nie erreiche. Damit wird internationale
Hilfe vor allem mit der allgegenwärtigen Korruption in Afghanistan
verbunden, die von rund 90 % der Menschen als erhebliches Problem
wahrgenommen wird.
Keine Schulen für ein Drittel der Mädchen
Erstmal beschäftigt sich die Umfrage genauer mit den
Bildungsmöglichkeiten für Jungen und Mädchen. Insgesamt bekommen die
örtlichen Schulen seit Jahren von rund 70 Prozent der Befragten gute
Noten. Während die Versorgung mit Jungenschulen allerdings nahezu
flächendeckend ist (87 %), gibt es für ein Drittel der Mädchen
keinerlei schulische Angebote. Und jede zehnte Mädchenschule musste
in den letzten Jahren dicht machen, fast alle wegen Angriffen und
Einschüchterungen durch die Taliban.
Taliban militärisch nicht zu besiegen
Insgesamt werden die Taliban und andere aufständische Gruppen
weiter als größte Bedrohung im Lande wahrgenommen. Nahezu gleich viel
Befragte sehen die Aufständischen im letzten Jahr gestärkt,
geschwächt oder gleich stark. Dabei fällt die Einschätzung regional
sehr unterschiedlich aus. "Es ist offensichtlich, dass die Taliban
immer nur punktuell geschwächt oder verdrängt werden können.", meint
Arnd Henze. "Aufs Ganze gesehen bleiben sie ein mächtiger Faktor im
Lande."
Nach neun Jahren Krieg setzen nahezu drei viertel der Afghanen
nicht mehr auf einen militärischen Sieg, sondern auf eine
Verhandlungslösung, die auch eine Regierungsbeteiligung der Taliban
einschließen würde. (+ 8 auf 73 %). Deutliche Ablehnung (61 %) gäbe
es aber für ein Verhandlungsergebnis, das ganze Provinzen unter die
Kontrolle der Taliban stellen würde.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass eine große
Mehrzahl der Afghanen einen schnellen Abzug der ausländischen Truppen
unterstützt. 27 Prozent befürworten den von Präsident Obama
angekündigten Beginn des Rückzugs im Sommer 2011, noch einmal fast
genauso viele wollen sogar einen noch schnelleren Abzug. Nur 17
Prozent wollen die Truppen länger im Lande halten und ein weiteres
Viertel will die Entscheidung von der weiteren Entwicklung im Lande
abhängig machen.
Deutschland wird immer unbeliebter
Aus deutscher Sicht ist der Nordosten des Landes von besonderer
Bedeutung, wo die Bundeswehr vor allem in der Provinz Kundus in den
letzten Monaten an zahlreichen Offensiven gegen die Taliban beteiligt
war. Im Ergebnis glauben immerhin 43 Prozent der Menschen in dieser
Region an eine Schwächung der Taliban. Und wie im gesamten Land
erkennen die Menschen auch im Nordosten, dass es bei der Ausbildung
des afghanischen Militärs Fortschritte gebe.
Doch die verstärkte militärische Präsenz der Bundeswehr hat ihren
hohen Preis. Deutschland hat sein traditionell gutes Ansehen und
seinen Vertrauensvorschuss in Afghanistan eingebüßt. Hatten im
Nordosten im Sommer 2007 noch 75 Prozent der Afghanen ein positives
Bild von Deutschland, so ist es heute mit 46 Prozent erstmals nur
noch eine Minderheit. Vier von zehn Befragten im Nordosten sind der
Ansicht, die NATO nehme immer weniger Rücksicht auf zivile Opfer und
vernachlässige den zivilen Aufbau - deutlich weniger (32 bzw. 30 %)
sehen in diesen wesentlichen Bereichen Verbesserungen. Ebenfalls nur
eine Minderheit von gerade noch 31 Prozent (-15 % ) meint, dass die
von Deutschland geführten NATO-Einheiten noch über einen Rückhalt in
der Bevölkerung verfügen. Umgekehrt hat die Zahl derer, die Anschläge
auf NATO-Einheiten befürworten, im Nordosten mit 39 Prozent ein
Allzeithoch erreicht und liegt damit deutlich über dem ebenfalls
gestiegenen landesweiten Wert (+ 19 auf 27 Prozent).
"Deutschland wird kaum noch als Verbündeter der Bevölkerung,
sondern fast nur noch als ausländische Kriegspartei wahrgenommen,"
meint Arnd Henze. "Punktuelle Erfolge im Kampf gegen die Taliban und
beim Aufbau der afghanischen Armee werden pragmatisch registriert,
aber die Köpfe und Herzen der Menschen erreicht das deutsche
Engagement nicht mehr."
Diese negative Sicht verbindet sich mit einer extrem schlechten
Beurteilung der Lebensbedingungen im Nordosten. Fast drei von vier
Befragten (+ 21 auf 72 %), deutlich mehr als im Landesdurchschnitt,
beschreiben ihre beruflichen Möglichkeiten negativ. Die Menschen in
der von Landwirtschaft geprägten Region beklagen vor allem die
unbezahlbaren Grundnahrungsmitteln (+ 5 auf 61 %) und viel zu teures
Saatgut und Dünger (+ 16 auf 65 %).
Im Gesamturteil sprechen erstmals mehr Afghanen dem Engagement der
Deutschen eine negative (+ 9 auf 28 %) als eine positive Rolle (- 7
auf 25 %) im Lande zu. Im Nordosten sieht es noch schlechter aus:
Innerhalb der letzten beiden Jahre hat sich die Zahl der Bewohner mit
einem positiven Urteil von 45 Prozent auf 21 Prozent mehr als
halbiert und die Zahl der Kritiker von 8 auf 27 Prozent mehr als
verdreifacht. Knapp die Hälfte der Befragten sieht Deutschlands Rolle
neutral.
Mit diesem Trend steht Deutschland allerdings nicht allein. Auch
mit Blick auf die USA sehen erstmals mehr Afghanen eine negative (+
12 auf 43 %) als eine positive Rolle (-9 auf 36 %) im Lande. Dabei
polarisieren die USA sehr viel stärker als Deutschland, so dass nur
20 Prozent die USA mit "neutral" beurteilen.
Ausnahme Helmand: nur hier greift neue US-Strategie
Der von US-Präsident Obama vor einem Jahr angekündigte
Strategiewechsel und die damit verbundene Truppenverstärkung werden
zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, die Auswirkungen sind aber nur in
einem einzigen Gebiet deutlich messbar. Gegen den Trend ist die
Gesamtzufriedenheit der Menschen in der einstigen Unruheprovinz
Helmand im vergangenen Jahr von 44 auf 71 Prozent gestiegen. Vor
allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten werden von 59 (+ 44 %), die
Bewegungsfreiheit von 61 (+ 35 %) und der Schutz vor den Taliban von
58 Prozent (+45 %) deutlich positiver bewertet.
"Die USA haben ihre ganze militärische Kraft und einen großen Teil
der Aufbauhilfe auf diese eine Provinz konzentriert.", erläutert Arnd
Henze. "Aber schon für die Nachbarprovinz Kandahar reichen die Kräfte
offensichtlich kaum noch aus, um die Taliban auch dort zu verdrängen
und die Lebenssituation zu verbessern. Und es gibt weder den
politischen Willen noch die Mittel, den gigantische Aufwand in
Helmand zum Modell für das ganze Land zu machen. Das wissen auch die
Taliban und verlagern ihre Kräfte in bisher eher stabile Provinzen".
Honoriert wird das Engagement der USA aber selbst in Helmand
nicht. Im Gegenteil: Trotz der spürbaren Verbesserungen billigen nur
19 Prozent (-17 %) der Menschen in dieser Provinz den USA eine
positive Rolle im Lande zu, deutlich mehr (+ 10 auf 44 %) sehen das
Gesamtbild der USA negativ. Für die Erfolge werden dagegen eher die
afghanische Kräfte verantwortlich gemacht. Dramatisch bessere Werte
gibt es in der Provinz Helmand für Präsident Karsai (+ 22 auf 62 %),
seine Regierung (+ 33 auf 58 %), die Armee (+ 15 auf 67 %) und die
lokale Polizei (+ 49 auf 65 Prozent).
Auch landesweit bekommen afghanische Institutionen deutlich
bessere Noten: eine deutliche Mehrheit bescheinigt Präsident Karsai
(- 9 auf 62 %), Armee (-4 auf 66 %) und Polizei (+ 3 auf 65 %) eine
gute Leistung. Immerhin 59 Prozent sind nach wie vor der Ansicht, das
Land bewege sich in die richtige Richtung - 11 Prozent weniger als
vor knapp einem Jahr.
"Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Umfrage, dass die
Afghanen auch kleinere positive Entwicklungen den eigenen Akteuren
zurechnen, während sie für alle Fehlentwicklungen die ausländischen
Kräfte haftbar machen," fasst Arnd Henze die Umfrage zusammen.
"Offensichtlich werden die eigenen Institutionen an deutlich
niedrigeren Erwartungen gemessen als die die internationalen Truppen
und Organisationen, die zu viel versprochen und zu wenig eingelöst
haben."
Umfragen werden schwieriger
Insgesamt bietet die sechste repräsentative Umfrage wenig
Lichtblicke. Die Zahlen werden auch durch die Erfahrungen bei der
Erhebung der Studie gestützt. Zwar konnten die mehr als 200
afghanischen Befragerinnen und Befrager ihre Interviews in allen 34
Provinzen durchführen. In diesem Jahr konnten allerdings deutlich
mehr Orte als in früheren Jahren aus Sicherheits- oder
Witterungsgründen nicht erreicht werden, so dass zwar 90 % der
Männer, aber nur 79 % der Frauen befragt werden konnten.
"Eine Umfrage auf der Basis von 85 Prozent der Bevölkerung gibt
immer noch eine sehr starke Datengrundlage", erläutert Arnd Henze.
"Wir haben in einer Modellrechnung ermittelt, dass sich die fehlenden
Gebiete nur unwesentlich auf den Gesamttrend auswirken würden. Wir
wollen nicht spekulieren, wie sich die Stimmung in den unerreichbaren
Orten auf die landesweiten Werte auswirken würde. Da es sich aber
überwiegend um besonders arme und umkämpfte Gebiete handelt, dürften
die fehlenden Werte den skeptischen Trend der Befragung eher noch
verstärken."
WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn verweist vor allem auf die
Nachhaltigkeit des Engagements: "Seit dem Sturz der Taliban wurden
Milliarden in den Wiederaufbau des Landes investiert. Hunderttausende
ausländischer Soldaten haben am Hindukush gekämpft. Wir haben die
Aufgabe, genau zu verstehen, warum so viel Engagement so wenig Erfolg
gebracht hat. Jede Umfrage ist eine Momentaufnahme. Aber über die
Jahre lässt sich verfolgen, wie sich Stimmungen verfestigen,
Hoffnungen geweckt und enttäuscht wurden und große politische
Strategien im Alltag der Menschen ankommen. Mit diesem genauen Blick
leisten wir mit unseren internationalen Partnern einen wichtigen
Beitrag zur transatlantischen Debatte über die Zukunft Afghanistans."
Die sechste Umfrage von ARD, ABC, BBC und "Washington Post"
basiert auf der Befragung von 1691 repräsentativ ausgewählten
Afghaninnen und Afghanen in allen 34 Provinzen. Die Ergebnisse werden
am Montag, 06.12.2010 um 12.00 Uhr zeitgleich in Köln, London,
Washington und New York veröffentlicht. Durchgeführt wurde die Studie
mit rund 150 Fragen im November 2010 in persönlichen Interviews von
98 weiblichen und 111 männlichen Interviewern des "Afghan Center for
Socio-Economic and Opinion Research" (ACSOR). Die Befragung erfolgte
in der jeweiligen Stammessprache - wobei Frauen nur von Frauen
interviewt wurden. Die Umfrage hat eine statistische Unschärfe von
3,5 Prozent. Frühere gemeinsame Umfragen wurden bereits vier Mal für
den Emmy Award nominiert und erhielten zwei Mal die bedeutende
Fernseh-Auszeichnung. In diesem Jahr wurden die bisherigen Umfragen
auch mit dem "Policy Impact Award" der Amerikanischen
Demoskopie-Vereinigung geehrt.
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