(ots) - Am Spätnachmittag des 12. Januar 2010 erschütterte
ein Erdbeben der Stärke 7 Haiti. Vor allem die Hauptstadt
Port-au-Prince des bitterarmen Landes wurde äußerst hart getroffen.
Mindestens 220.000 Menschen kamen ums Leben, unzählige wurden
verschüttet oder schwer verletzt geborgen. Mehr als 1,5 Millionen
Menschen wurden obdachlos. Das Beben zerstörte Wohnhäuser, Straßen,
Krankenhäuser, Kirchen. Nationalpalast und Kathedrale stürzten ein.
Hotels, Behörden, Büros, Redaktionen, Bibliotheken und Archive wurden
schwer beschädigt. Es war das schlimmste Erdbeben in der Geschichte
Haitis und die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte der
Vereinten Nationen. Zum ersten Jahrestag des verheerenden Erdbebens
sprachen wir mit Prälat Bernd Klaschka, Geschäftsführer des
Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, über die aktuelle Situation in dem
Land und die Aufgaben der Kirche.
Prälat Klaschka, Erdbeben, Hurrikan, Cholera, umstrittene Wahlen
und Proteste: Ist Haiti überhaupt noch zu helfen?
Ich verstehe den Infinitiv Ihrer Frage (ist noch zu helfen)
zunächst im wörtlichen Sinn: Steht es noch an, ist es noch nötig,
Haiti zu helfen. Da gibt es nur eine Antwort: Ja, jetzt erst recht,
gerade jetzt, wo die Aufmerksamkeit der sogenannten
"Weltöffentlichkeit" sich längst anderen Themen und Schauplätzen
zugewandt hat. Auch im übertragenen Sinne (Gibt es überhaupt noch
Aussichten für Haiti?) ist Haiti noch zu helfen. Mal anders herum
betrachtet: Wäre Haiti in diesem Sinne nicht mehr zu helfen, hieße
das doch: Wir schreiben Haiti ab; soll Haiti doch den Bach
runtergehen. Dabei hatte es in den sechs Jahren seit dem Ende des für
Haiti so bitteren Aristide-Regimes in der Entwicklung des Landes
sichtbare, wenn auch kleine Schritte gegeben. Das Erdbeben warf Haiti
zurück. Doch die Entschlossenheit der Haitianer, ihr Land aus dem
Elend zu ziehen, ist ungebrochen. Und das ist der Kernpunkt: Die
ersten, zweiten und dritten Helfer Haitis sind die Haitianer. Deshalb
formuliere ich Ihre Frage anders: Werden die Haitianer Haiti helfen?
Auch hier antworte ich: Ja. Unsere Solidarität unterstützt sie dabei.
Wie weit ist der Wiederaufbau der betroffenen Regionen gediehen?
Leider konnte der Wiederaufbau bisher nicht in signifikantem Maße
begonnen werden. Hierfür gibt es vielfältige Ursachen: ein schwacher
Staat, der mit der Bewältigung der Folgen des Erdbebens schlichtweg
überfordert ist; fehlende Strukturen, auf die die nationalen und
internationalen Hilfemaßnahmen hätten aufbauen können; das
unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung an sich und vieles mehr. Auch
fehlte es bisher an konkreten staatlichen Vorgaben vor allem
bezüglich der für den Wiederaufbau zu berücksichtigenden Baunormen.
Der Ausbruch der Cholera und der Hurrikan Tomás haben den
Wiederaufbauprozess zusätzlich erschwert. Es darf jedoch nicht
vergessen werden, dass sich die Hilfe in Haiti nicht auf den
Wiederaufbau beschränkt. Es gibt vieles, was durchaus schon erreicht
werden konnte, Schritte, die angesichts der leider immer noch
bestehenden Zeltstädte weniger sichtbar sind: Schulen wurden wieder
eröffnet, traumatisierte Menschen begleitet, Verletzte versorgt, in
vielen Bereichen eine Grundinfrastruktur - temporär oder dauerhaft -
wieder hergestellt.
Welche Rolle spielt dabei die Kirche?
Die Kirche ist eines der ganz wenigen landesweiten Netzwerke, in
die die Bevölkerung auch vertraut. Sie ist in der Koordinierung und
Durchführung von Hilfsmaßnahmen vor allem über die Pfarreien und über
die Caritasstruktur besonders gefragt. Die Kirche in Haiti ist in
vielfältigen Bereichen engagiert: in der klassischen Pastoralarbeit,
aber auch in der schulischen Bildung, in der Bewusstseinsarbeit, in
der Schaffung von Genossenschaften und Gemeinwesenprojekten, in der
Trauma-Arbeit, in der konkreten Notfallhilfe, in der
Gesundheitsarbeit.
Im Bereich des Wiederaufbaus hat die katholische Kirche die
letzten Monate genutzt, um eine Struktur zu entwickeln, welche eine
gute Kooperation mit internationalen Geldgebern, eine transparente
Mittelverwendung und vor allem eine erdbeben- und hurrikansichere
Bauweise gewährleistet. Adveniat war in diesen Prozess intensiv
eingebunden.
Wie unterstützt Adveniat die Menschen in Haiti?
Adveniat steht der Kirche in Haiti in vielen Bereichen zur Seite.
Nach dem Beben wurden Pfarreien, zum Beispiel beim Ersatz zerstörter
Infrastruktur, zunächst mit Übergangslösungen unterstützt, damit es
wieder Räume für Gottesdienst, Gruppentreffen und Schulunterricht
gibt. Mit Hilfe Adveniats werden Fachkräfte in der Trauma-Arbeit
ausgebildet. Pfarreien und Ordensgemeinschaften wurden unterstützt,
um Lebensmittel und Medikamente für die Erdbebenopfer zur Verfügung
zu stellen. Die meisten Organisationen konzentrieren sich auf das
Erdbebengebiet. Daher ist es Adveniat ein besonderes Anliegen, auch
die Regionen zu berücksichtigen, die nicht in der unmittelbaren
Katastrophenregion liegen, aber dennoch unter den Folgen des Bebens
sowie der Cholera und des Wirbelsturms leiden müssen.
Am 27. November fanden die Präsidentschaftswahlen in Haiti statt.
Mehrere Kandidaten, aber auch aufgebrachte Bürger sprachen
anschließend von Wahlbetrug. Wie demokratisch waren Ihrer Meinung
nach die Wahlen?
Die katholische Menschenrechtsorganisation Justice et Paix
beobachtete die Durchführung der Wahlen nicht nur in der Hauptstadt,
sondern auch auf den Dörfern. Ihr Leiter, P. Jan Hanssens CICM, sagt,
dass das Wahlrecht durch mangelhafte Organisation wie bewusste
Manipulation vielerorts verletzt wurde. Das ist nicht neu. Auch wenn
das ein schlechter Trost ist: Die meisten der vorangegangenen Wahlen
waren noch irregulärer. Wichtig ist erstens, dass die Wahlkommission
den Wahlverlauf transparent macht, dass zweitens - falls das
Wahlergebnis nachvollziehbar ist - die Verlierer ihre Niederlage
eingestehen (das ist in Haiti leider nicht die Regel,
Verschwörungstheorien sind beliebter), und dass drittens bald eine
Regierung gebildet wird.
Was benötigt Haiti Ihrer Ansicht nach am meisten, um seinen
Bürgerinnen und Bürgern eine bessere Zukunft bieten zu können?
Ich spreche lieber von den Haitianern als von "Haiti". Die
Haitianer brauchen zunächst die Freiheit, ihr Land selbst aufbauen zu
dürfen, statt es sich von Anderen aufbauen und damit aus der Hand
nehmen zu lassen. Das läuft dann durchaus anders, als wir es uns
vorstellen. Deshalb brauchen sie zweitens unsere Geduld (auch die der
Spender, die morgen schon Ergebnisse sehen möchten - doch "schnell"
hat in Haiti noch nie funktioniert), drittens, wie gesagt, weiterhin
unsere Hilfe und vor allem unser Gebet.
Prälat Klaschka, was gibt Ihnen Hoffnung, wenn Sie an Haiti
denken?
Hoffnung gibt mir immer wieder die Begegnung mit den Menschen in
Haiti, von denen wir in unseren Kulturkreisen viel lernen können. Ihr
unbedingtes Vertrauen in Gott, der tiefe Glaube, der nicht nur in der
Theorie, sondern ganz konkret Kraft, Trost und Zuversicht spendet,
lässt auch mich an der Hoffnung an ein besseres Morgen für Haiti
festhalten. Hoffnung gibt mir auch die erlebte wunderbare Solidarität
der Menschen hier in Deutschland und weltweit mit diesem Land,
welches bis zum 12. Januar 2010 quasi vergessen war.
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Carolin Kronenburg
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