(ots) - Ein Kommentar von Thomas Frankenfeld
Könnten Sie sich vorstellen, in einer Stadt zu leben, in der fast
jeden Tag irgendwo ein tödlicher Hagel aus Raketen niedergeht? In der
jede Bushaltestelle zum Bunker ausgebaut ist, da die Vorwarnzeit bis
zum Einschlag oft nur 15 Sekunden beträgt? In der Schulen bevorzugte
Raketenziele darstellen und Sie nie wissen, ob Sie ihr Kind am
Nachmittag wiedersehen? Nun, Zehntausende Israelis leben in solchen
Städten. Unter Verdrängung einer lähmenden Todesangst, die
unterschwellig die Seele auffrisst. Rund 400 Raketenangriffe hat
Israels Süden allein seit Jahresbeginn ertragen müssen. Die jüngste
Serie stellt zusammen mit den vier Terroranschlägen am Donnerstag,
denen acht Israelis, darunter Kinder, zum Opfer fielen, eine neue
Eskalationsstufe im nahöstlichen Dauerdrama dar. Es ist kein Zufall,
dass diese Verschärfung der Lage zeitlich mit der vor sich hin
schwelenden Revolution in Ägypten korreliert. Der gestürzte Pharao
Mubarak war fraglos ein Despot, zugleich aber ein verlässlicher
Friedenspartner Israels. Seine Nachfolger sind es nicht. Der "Kairoer
Frühling" mit neuen, noch israelfeindlicheren Akteuren stellt die
ganze Sicherheitsarchitektur der Region infrage. Der jüdische Staat
steht vor der Herausforderung, ein völlig neues strategisches Konzept
erarbeiten zu müssen. Und dies wird ausgerechnet in einer Zeit
notwendig, in der die Solidarität der Israelis mit ihrer Führung
erstmals einer starken Belastung ausgesetzt ist. Die Grenzkontrollen
der Ägypter zum Gazastreifen, wo die radikalislamische Hamas
herrscht, sind mittlerweile derart nachlässig, dass Terroristen dort
nun nicht mehr nur selbst gebasteltes Schießzeug wie die berüchtigte
"Kassam"-Rakete einsetzen, sondern problemlos sogar veritable
Kurzstreckenraketen vom russischen Typ "Grad" einschmuggeln können.
Damit geraten weitere 120?000 israelische Bürger in die Reichweite
ihrer erbittertsten Feinde. Das kleine Land, das von einem Jet in
wenigen Minuten überflogen werden kann, muss sich gegen diese neue
Bedrohung zur Wehr setzen. Doch Israel, das sich schon hinter
Schutzmauern und den Raketenabwehrschirm "Eiserne Kuppel" ducken
muss, erlebt zähneknirschend, dass sich die Welt stets nur dann
empört, wenn es zurückschlägt. Von der Eskalation profitieren die
Hardliner beider Seiten. Israels Premier Benjamin Netanjahu zum
Beispiel, der nicht im Verdacht steht, allzu bereitwillig mit den
Palästinensern Frieden schließen zu wollen. Die Terrorwelle schweißt
sein entsetztes Volk zusammen und nimmt kurzfristig den größten
sozialpolitischen Druck von seiner Regierung. Dass israelische
Spezialeinheiten die Mörder liquidieren, ist nachvollziehbar. Doch
der alte Reflex, danach noch Luftangriffe im Gazastreifen fliegen zu
lassen, wobei immer wieder auch palästinensische Zivilisten ums Leben
kommen, ist ebenso töricht wie sinnlos, weil er nur noch mehr Hass
sät, aber die Terroristen keineswegs beeindruckt. Dann die Hamas, die
nie von ihrem erklärten Ziel abgewichen ist, den Staat Israel zu
vernichten, und die den vergleichsweise liberalen
Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas entmachten will. Und andere,
womöglich noch radikalere Terrorgruppen, die sich nun in Ägypten, der
Heimat der Muslimbruderschaft, ungehindert formieren können.
Schließlich die Gegner Israels in der neuen Kairoer Führungsebene.
Ägypten gerät allmählich in den Verdacht, Israels Todfeinden
zumindest passive Unterstützung zu gewähren. Die arabische Revolution
von Tunesien bis Bahrain hatte viele Hoffnungen geweckt, dass sie,
ähnlich wie die Tyrannendämmerung in Europa um 1990, zu Frieden und
mehr Demokratie führen würde. Stattdessen wird sie zunehmend zu einer
Bedrohung für die einzige echte Demokratie der ganzen Region: Israel.
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