(ots) - Chinas rasantes Wachstum treibt vielen im Westen
die Sorgenfalten auf die Stirn. Wie aber sehen die Chinesen
Deutschland?
Frank Sieren: Die Chinesen sehen Deutschland zunächst einmal
positiv. Das liegt daran, dass wir die besten Luxusautos der Welt
bauen, hochwertige Maschinen herstellen, aber auch daran, dass zwei
bis drei Bundesliga-Spiele samstags live im chinesischen Fernsehen
gezeigt werden. Aber das Bild von den Deutschen, oder mehr noch das
der Europäer, hat sich in den vergangenen sechs bis acht Monaten
dramatisch verändert, nämlich in dem Maße, in dem uns die Euro-Krise
über den Kopf gewachsen ist. Inzwischen schauen die Chinesen auf
Europa mit dem gleichen vorwurfsvollen Blick, mit dem wir auf
Griechenland schauen. Und sie stellen die gleichen Fragen: Warum habt
ihr über eure Verhältnisse gelebt, warum habt ihr die Spielregeln,
die ihr euch selbst gegeben habt, nicht eingehalten und bringt nun
die ganze Welt in eine Schieflage?
Das heißt, dass die momentane Lage auch den Chinesen Angst macht?
Sieren: Angst vielleicht nicht gerade, aber doch große Sorgen.
Denn China braucht den Euro-Raum, als Gegengewicht zu Amerika. Und
fürchtet um die größten Absatzmärkte für seine Exporte. Für die
soeben angesprochene Autoindustrie ist Chinas wachsender Wohlstand
ein Segen. Welche Risiken hat dieser Boom?
Sieren: Die Gefahr liegt darin, dass wir immer abhängiger vom
chinesischen Markt werden. China kommt mehr und mehr in die Lage, die
Entwicklungsrichtung dieser Unternehmen mit zu bestimmen. In dieser
Frage ist man in Deutschland ein wenig blauäugig. Man freut sich
heute über die guten Zahlen und verdrängt die steigende Abhängigkeit.
Aber zunächst einmal ist das gut für die deutsche Wirtschaft.
Die US-Wirtschaft ist noch immer fast drei Mal so groß wie die
chinesische. Andererseits ist China der größte Gläubiger der USA.
Welche Konsequenzen hat diese Abhängigkeit?
Sieren: Der politische Spielraum Amerikas ist insofern dramatisch
geschrumpft, weil China als der größte Gläubiger zwar nicht
Staatsanleihen adhoc verkaufen, aber doch drohen kann, weniger neue
Staatsanleihen zu kaufen und damit den US-Dollar unter Druck zu
setzen. Das kann sich die angeschlagene US-Wirtschaft nicht leisten.
Und daher muss der US-Präsident bei globalen Debatten inzwischen sehr
genau zuhören, was die Chinesen wollen.
Washington hat also weniger Spielraum, seinen Banker zu
kritisieren?
Sieren: Ja. Aber es geht nicht nur um die Bankerfrage. Der
Schwerpunkt der gesamten Weltwirtschaft verlagert sich in Richtung
Asien mit dem Epizentrum China. Die Wall Street ist zwar immer noch
sehr mächtig, aber sie relativiert sich. Im vergangenen Jahr gab es
zum ersten Mal die meisten Börsengänge der Welt in Hongkong. Unter
den fünf wertvollsten Banken der Welt sind inzwischen drei
chinesische und nur noch eine amerikanische und eine europäische. In
der Produktion ist die Entwicklung schon viel weiter
vorangeschritten. China ist die Fabrik der Welt. Und China verfügt
über Rücklagen und hat eine geringe Staatsverschuldung, von denen die
westlichen Industrienationen nur träumen können. Das sind
Verschiebungen, die die chinesische Regierung in die Lage versetzen,
wirtschaftliches Kapital in politisches umzutauschen. Das klingt zwar
für manchen bedrohlich, ist aber am Ende ein großer Fortschritt. Es
entsteht eine multipolare Weltordnung. Denn trotz dieses ungeheuren
Machtzuwachses wird China nie so mächtig werden, wie die USA es
einmal war. Die Macht wird sich auf mehrere Pole verteilen: Die
Brasilianer reden mit, die Russen, die Inder, die Europäer. Alle sind
gezwungen, sich an einen Tisch zu setzen und die globalen Spielregeln
gemeinsam auszuhandeln. Damit wird die Weltordnung stabiler, weil
nicht mehr ein Land allein in der Lage ist, unkontrolliert
wirtschaftliche und politische Risiken einzugehen und die Welt dafür
bezahlen zu lassen. Die Tatsache, dass der G7/8-Gipfel seit 2008 auf
Präsidenten- und Premierminister-Ebene als G20-Gipfel tagt, zeigt,
dass dieser Weg schon Alltag ist.
Also wird die Weltmachtstellung der USA weiter bröckeln?
Sieren: Ja. Die Einzigartigkeit der amerikanischen Machtposition
ist Geschichte. Aber auch Europa und besonders Deutschland, eine der
führenden Wirtschaftsmächte der Welt, verlieren an Einfluss. Wir
müssen also lernen, Kompromisse einzugehen. Dazu müssen wir
verstehen, wie die Chinesen ticken. Nur so können wir unsere Position
wirkungsvoll einbringen. Diese Einsicht ist in Deutschland noch nicht
sehr stark ausgeprägt.
Auch Europa schielt in Sachen Bewältigung der Finanzkrise auf die
weißen Ritter aus dem Reich der Mitte. Doch die Chinesen reagieren
reserviert. Warum zögern sie hier?
Sieren: Die Chinesen denken nicht in Entwicklungshilfe-Kategorien,
wenn sie nach Europa schauen -- zum Glück noch nicht. Sie
investieren, um Gewinne zu machen oder die Weltlage zu stabilisieren.
Aber die Chinesen brauchen uns auchu
Sieren: Die brauchen uns zwar, aber wenn es hart auf hart kommt,
dann brauchen wir die Chinesen mehr als sie uns. Denn die Chinesen
verfügen über hohe Rücklagen und können noch zwei, drei gigantische
Konjunkturprogramme auflegen, ohne in eine Verschuldungslage zu
kommen, in der der Westen längst ist. Amerika noch stärker als
Europa. Deswegen bleibt den Europäern gar nichts anderes übrig, als
zusammenzuhalten, was auch bedeutet, dass die Starken für die
Schwachen einstehen. Und alle westlichen Demokratien müssen ihre
politischen Systeme modernisieren. Ein Konstruktionsfehler ist, dass
Politiker die Möglichkeit haben, die Kosten ihrer Politik so weit in
die Zukunft zu verlegen, dass sie dafür nicht mehr zur Rechenschaft
gezogen werden können.
Welche Mitverantwortung hat der Westen für Umweltsünden in China?
Sieren: Wir verlangen von den Chinesen, sich zurückzuhalten, was
den Energieverbrauch und den CO2-Ausstoß betrifft, wollen uns aber
selbst nicht einschränken. Vor allem die Amerikaner nicht. Nicht nur
die Jeans "made in China", sondern auch das iPad sind ja auch
deswegen bei uns im Laden so preiswert, weil der Umweltschutz nicht
eingepreist wird. Wenn die chinesische Regierung zu dem Ergebnis
kommt, dass China nicht mehr die Dreckschleuder der Welt sein will,
könnte sie sofort eine 30-prozentige Umweltsteuer auf alle
Exportprodukte aufschlagen. Werden diejenigen, die heute mit dem
Finger auf den Umweltsünder China zeigen, dann ohne zu murren bei
Tchibo, Karstadt und Mediamarkt auch 30 Prozent mehr zahlen? Peking
hat längst erkannt, dass etwas geschehen muss. Schon heute werden in
keinem Land der Welt mehr Solar- und Windanlagen hergestellt und
installiert als in China.
Bangladesh, Vietnam können noch billiger produzieren. Hat China
als Werkshalle Europas bald ausgedient?
Sieren: Nein. Das sind sehr kleine Länder, die zudem logistisch
schlecht aufgestellt sind. Es ist nicht so einfach, große
Produktionseinheiten anderswo aufzubauen. Es gibt auf absehbare Zeit
kein Land, das Waren so schnell, so viel, so günstig und mit so hoher
Qualität produzieren, wie China.
Auch in China werden Protes"te gegen Dumpinglöhne,
Umweltverschmutzung und Land-Enteignungen häufiger und massiver.
Bewirkt das ein Umdenken bei den mächtigen Hardlinern der Regierung?
Sieren: Dass die Menschen sich nicht alles gefallen lassen, ist
die beste Garantie dafür, dass die Regierung sich anstrengt. Insofern
sind Proteste wichtig und gut. Dennoch glaube ich, dass diese
Proteste auf absehbare Zeit lokal und regional bleiben und die
Menschen nicht versuchen werden, die Zentralregierung zu stürzen.
Also keine Nachahmungsgefahr des ,,arabischen Frühlings"?
Sieren: Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Die
Volkswirtschaften Nordafrikas steckten und stecken in einer tiefen
Krise. China ist mit knapp zehn Prozent Wachstum hingegen sehr
erfolgreich. Die lokalen Proteste allerdings könnten weiter zunehmen.
Das ist aber ein gutes Zeichen. Die Menschen können so Dampf
ablassen, was sehr wichtig ist.
Globale Rohstoffknappheit zwingt auch China zum Handeln. Sind die
Chinesen cleverer, wenn es um den Griff auf Ölhähne geht?
Sieren: Ja. Nach dem Irakkrieg haben die Chinesen etwa doppelt so
viele Ölfelder bekommen wie die Amerikaner, obwohl die Amerikaner den
Krieg geführt haben. Soeben haben die Chinesen auch ein riesiges
Ölfeld in Afghanistan gekauft, die Amerikaner ziehen sich zurück. Im
Iran wird die Sanktionspolitik nicht funktionieren. Währenddessen
sichert sich Peking dort die Ressourcen. Wenn man die Mullahs
schwächen will, muss man dort investieren, damit die Menschen eine
Alternative zur fanatischen Religion bekommen. So war das einst auch
im China der 80er-Jahre: In dem Moment, als die Chinesen die Wahl
zwischen einer Mao-Bibel und einem Kühlschrank hatten, haben sich
alle für den Kühlschrank entschieden. Insofern ist die Pekings
Politik der wirtschaftlichen Kooperation doch nicht so zynisch, wie
man auf den ersten Blick denken könnte.
Kann Deutschland das chinesische Überholmanöver in Sachen Technik
noch stoppen?
Sieren: Die Chinesen hatten natürlich hier ganz andere
Möglichkeiten, die Forschung voranzutreiben. Hier zeigt sich, dass
sie uns inzwischen nicht mehr nur über den Preis schlagen können,
sondern auch in Sachen Innovation. Die Chinesen arbeiten jetzt schon
an einem Konkurrenzflugzeug zu Boeing und Airbus. Das wird nicht nur
billiger, sondern in einzelnen Belangen auch besser sein. Dieser
Wettbewerb muss uns anspornen. Wir müssen uns noch mehr anstrengen
als früher. Sonst geht es auch anderen Industrien wie der deutschen
Solarbranche. Die hielten sich für uneinholbar fortschrittlich und
haben von Subventionen geblendet zu wenig in Forschung und
Entwicklung investiert. Inzwischen haben die Chinesen sie abgehängt.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an Liu Xiaobo haben
Sie, wie einige andere auch, kritisiert, weil er auf Chinas Reformer
eher strangulierend als bestärkend gewirkt hat. Welche Möglichkeiten
hat der Westen, um Missstände anzuprangern?
Sieren: Wir sollten durchaus klar und deutlich sagen, was wir für
falsch halten. Es kommt jedoch auf den Tonfall an. Wenn man zum
Beispiel etwas an seinem Ehepartner auszusetzen hat, sagt man es ihm
doch auch eher unter vier Augen, als dass man ihn in großer Runde
bloßstellt. Und man wählt einen Tonfall, der Einsicht
wahrscheinlicher werden lässt. Alles andere ist kontraproduktiv. Das
ist bei Ländern nicht viel anders.
Das Gespräch führte Dietlinde Terjung
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Werner Kolbe
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