(ots) - Patientinnen und Patienten mit chronischen
Schmerzen sind die Stiefkinder des Medizinsystems. Dies belegen
Umfragen und Untersuchungen, die auf dem Deutschen Schmerz- und
Palliativtag in Frankfurt präsentiert werden. »Die 'Schmerzoffensive
Deutschland', ein Programm der Deutschen Gesellschaft für
Schmerztherapie, soll dies ändern«, erklärt Tagungspräsident Dr.
Gerhard H. H. Müller-Schwefe. Das Programm hat ein einziges Ziel:
Das Gesundheitssystem in Deutschland soll sich endlich an der
Versorgungsnotwendigkeit von Millionen Menschen mit chronischer
Schmerzkrankheit orientieren. Dies erfordert ein Bündel von
Maßnahmen, unter anderem auch die Verankerung der Schmerzmedizinals
eigenständiges Fachgebiet in der Medizin .
"Wir sind mit unseren Bemühungen gescheitert, die Versorgung von
Schmerzpatienten in Deutschland nicht nur punktuell, sondern
nachhaltig und flächendeckend zu sicherzustellen", sagt Dr. Gerhard
H. H. Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Schmerztherapie und Leiter des Deutschen Schmerz- und Palliativtags
in Frankfurt. "Viele Ziele, die wir uns in der Gründungsphase unserer
Gesellschaft vor 28 Jahren gesteckt haben, konnten wir nicht
erreichen, obwohl die Probleme der Patienten in der Öffentlichkeit
zunehmend wahrgenommen werden." Die Erkenntnisse der Schmerzforschung
und Schmerzmedizin werden, so Müller-Schwefe, nicht zum Nutzen der
Patienten umgesetzt, weil gesundheits- und standespolitische
Rahmenbedingungen dies verhindern.
SCHMERZPATIENTEN LEIDEN.
Darum ist es nicht verwunderlich, dass Schmerzpatienten mit ihrer
Behandlung vielfach unzufrieden sind: In einer Umfrage, die auf der
Tagung präsentiert wird, berichten 86 Prozent der 2860 befragten
Patienten, dass sie sich aufgrund eines unzureichenden
Schmerzmanagements im täglichen Leben eingeschränkt fühlen. Drei
Viertel haben Schlafstörungen, 80 Prozent leiden am so genannten
end-of-dose-pain. Dieser tritt auf, wenn der Wirkspiegel eines
Medikamentes vor der Einnahme der nächsten Dosis absinkt. In einer
anderen Untersuchung geben 90 Prozent der Patienten zu Protokoll,
dass ihre Schmerzintensität höher ist als dies bei einer adäquaten
Therapie zu erwarten wäre.
Diese Defizite haben damit zu tun, dass die Schmerzmedizin im
Medizinsystem nicht als eigenständiges Fachgebiet etabliert ist,
vergleichbar etwa mit der Kardiologie. Deshalb ist sie auch nicht
obligatorisch in die Aus- und Weiterbildung der Ärzte integriert. In
den Leistungsverzeichnissen findet sich Schmerz überall ein bisschen
aber immer nur als Symptombehandlung, nicht mit den Diagnostik- und
Behandlungsoptionen, die Patienten mit einer chronischen
Schmerzkrankheit benötigen. Dies wiederum beeinflusst die Vergütung
schmerztherapeutischer Leistungen und sorgt für Nachwuchsmangel bei
den Schmerztherapeuten. Entsprechend fehlen spezialisierte
Einrichtungen, was ebenfalls mit den Ausbildungsdefiziten, aber auch
mit der wirtschaftlichen Situation von Schmerzpraxen zu tun hat.
Darum ist eine oft jahrelange und frustrierende Odysee durch
Arztpraxen typisch für Schmerzpatienten, während der sich die
Schmerzen zunehmend tiefer in das Zentralnervensystem einbrennen und
daher zunehmend schwieriger zu behandeln sind.
FACHARZT FÃœR SCHMERZMEDIZIN GEFORDERT.
Fortschritte für die betroffenen Patienten werde es nur dann
geben, so Müller-Schwefe, wenn die Schmerzmedizin als eigenständiges
und gleichwertiges Fach mit entsprechenden Lehr- und
Weiterbildungsinhalten an den Universitäten auf allen Ebenen der
medizinischen Lehre und Forschung etabliert ist. Ebenso ist es
erforderlich, dass die Schmerzmedizin umfassend in den
Leistungsverzeichnissen der Krankenkassen abgebildet ist, zu einem
festen Bestandteil der Fortbildung von Haus- und Fachärzten gehört
und adäquate Vergütungsregeln für die Behandlung etabliert werden.
Schmerztherapie in der Approbationsordnung. Im vorliegenden Entwurf
des Gesundheitsministeriums für die neue Approbationsordnung für
Ärzte ist die Schmerzmedizin inzwischen - zusammen mit der
Palliativmedizin - als Querschnittsfach vorgesehen. Dies bedeutet,
dass sie als Pflichtfach gelehrt und auch geprüft wird.
»Vorausgesetzt der Bundesrat beschließt dies ist es ein erster
kleiner Erfolg, für den wir lange gekämpft haben«, sagt
Müller-Schwefe. »Doch es ist erst der Anfang.«
WAS EINE RECHTZEITIGE SCHMERZTHERAPIE LEISTET.
Eine bessere schmerzmedizinische Ausbildung der Ärzte ist eine
Voraussetzung für bessere Versorgungsmodelle. Auch hier ist die
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie ein Vorreiter. Sie
initiierte ein Konzept zur integrierten Versorgung von
Rückenschmerzpatienten, das sich als Erfolgsmodell entpuppt hat.
»Dieses Projekt zeigt«, so Müller-Schwefe, »wohin die Reise
grundsätzlich in der Schmerztherapie gehen muss. Hin zu einer
rechtzeitigen und intensiven Versorgung, bevor es zu tiefgreifenden
Chronifizierungsprozessen gekommen ist, deren Behandlung dann sehr
viel höhere Kosten verursacht.« Das Projekt, gemanagt von der IMC
GmbH, wurde zusammen mit der Techniker Krankenkasse sowie der
Hanseatischen Krankenkasse inzwischen an bundesweit 36 Zentren
etabliert. Alle Behandlungsergebnisse werden in einer umfangreichen
Datenbank gesammelt. Dies wird möglich durch ein vollelektronisches
Dokumentationssystem. Etabliert sind zur Qualitätssicherung ein
automatisches Benchmarkinsystem sowie routinemäßige
Patientenbefragungen vor und nach der Behandlung durch ein
unabhängiges Forschungsinstitut.
VIERWÖCHIGE KOMPLEXTHERAPIE.
Das Prinzip des erfolgreichen Projektes: Die Krankenkasse spricht
gezielt Versicherte an, die sich bereits seit längerer Zeit wegen
ihrer Rückenschmerzen in ärztlicher Behandlung befinden, mindestens
vier Wochen arbeitsunfähig und weitere Arbeitsunfähigkeit droht. Denn
dies sind Betroffene, die möglicherweise ein hohes
Chronifizierungsrisiko haben. Die Patienten werden von Experten
zunächst untersucht. Bei dem vier-, maximal achtwöchigen kompakten
Intensiv-Programm arbeiten Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten
Hand in Hand. Die Patienten werden von verschiedenen Experten
gleichzeitig und nicht nacheinander behandelt (multimodale Therapie).
WENIGER SCHMERZ, MEHR LEBENSQUALITÄT.
Bislang wurden von den 5294 zugewiesenen Patientinnen und
Patienten 3997 in das Programm aufgenommen, 1297 wurden andere
Therapien empfohlen (Stand Anfang 2012). Auswertungen zeigen, dass
nach vier Wochen 52,7 Prozent der Patienten und nach insgesamt acht
Wochen 87,2 Prozent wieder arbeitsfähig sind. Mit 84,4 Prozent
Langzeitrespondern ändern sich diese Zahlen auch nicht wesentlich bei
Nachuntersuchungen nach sechs Monaten. Normalerweise kehren nur 35
Prozent der Rückenschmerzpatienten nach einer Arbeitsunfähigkeit von
mehr als drei Monaten innerhalb von zwei Jahren an ihren Arbeitsplatz
zurück. »Es ist unser erklärtes Ziel, diese Versorgungsform für alle
Schmerzformen gleichermaßen und flächendeckend zu etablieren«, betont
Müller-Schwefe.
PRAXISLEITLINIEN ALS WEITERER BAUSTEIN DER SCHMERZOFFENSIVE
DEUTSCHLAND.
Die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie mit der Entwicklung
von Praxisleitlinien und Praxis-Fragebögen begonnen, die ebenfalls
die Versorgung der Patienten verbessern soll. Diese geben
Hilfestellungen für die tägliche schmerzmedizinische Arbeit.
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