(ots) - Pressemitteilung
In Regionen und Zeiten erhöhter künstlicher Radioaktivität werden
weniger Mädchen geboren - Wissenschaftler finden Auffälligkeiten nach
atmosphärischen Atomwaffentests, nach der Katastrophe von Tschernobyl
und in der Region um das Zwischenlager Gorleben - Erklärungsansätze
führen das Phänomen zurück auf zum Zeitpunkt der Befruchtung ohnehin
fehleranfällige Entwicklungsprozesse, die auch auf ionisierende
Strahlung besonders empfindlich reagieren - Deutsche Umwelthilfe
fordert Untersuchungsprogramm
Ob nach den atmosphärischen Kernwaffentests der Atommächte seit
den fünfziger Jahren, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
1986 oder in der Region Gorleben seit die Castor-Transporte rollen,
stets finden Wissenschaftler die gleichen Auffälligkeiten in den
Geburtenstatistiken: Es werden signifikant weniger Mädchen geboren
als Jungen, auch wenn die künstliche Strahlenbelastung weit unter den
zulässigen Grenzwerten liegt. Über den statistischen Befund gibt es
keinen Streit. Doch während die herrschende Strahlenwissenschaft
öffentlich über das Phänomen der "verlorenen Mädchen" schweigt und
intern einen Zusammenhang mit künstlicher Strahlung spekulativ nennt,
suchen Biostatistiker Strahlenbiologen und Humangenetiker nach
Erklärungen.
"Die Häufigkeit der verstörenden Befunde deutet auf grundlegende
Probleme bei der geltenden Bewertung radioaktiver Niedrigstrahlung
hin", sagte der Leiter Politik und Presse der Deutschen Umwelthilfe
e. V. (DUH), Gerd Rosenkranz. Angesichts der wachsenden Zahl
gleichgerichteter Unregelmäßigkeiten in den Geburtenstatistiken
verlangt die DUH von der Bundesregierung "einen systematischen
Versuch der wissenschaftlichen Aufklärung". Das sei man den Menschen
in den betroffenen Regionen schuldig, die wegen der Befunde erheblich
verunsichert seien. Rosenkranz: "Es kann nicht sein, dass Politik und
Strahlenwissenschaft offenbar aus Furcht vor den Konsequenzen einer
neuen Grenzwertdiskussion über künstliche Radioaktivität den Kopf in
den Sand stecken und zur Tagesordnung übergehen."
Aktuell hatten der Biomathematiker Hagen Scherb vom Helmholtz
Zentrum München und seine Kollegen Kristina Voigt und Ralf Kusmierz
in einem 40 Kilometer-Radius um das Zwischenlager Gorleben ein
eindrucksvolles "Mädchendefizit" ermittelt - und zwar genau seit
1995, als die ersten Castor-Behälter mit hochradioaktiven Abfällen in
die Region rollten. Im Zeitraum von 1996 bis 2010 kamen dort fast
tausend Mädchen weniger zur Welt, als nach den Statistiken der
Vorjahre zu erwarten gewesen wären. Auswertungen an anderen
Atomstandorten (wie dem niedersächsischen Atommülllager Asse), in den
Fallout-Regionen nach den atmosphärischen Kernwaffentests der
Atommächte und nach der Katastrophe von Tschernobyl, wo gestern vor
26 Jahren Reaktorblock 4 explodierte, ergaben ähnliche Ergebnisse.
Nach Tschernobyl fanden die Forscher zudem eine "Mädchenlücke" in
Europa, nicht aber in den vom Fallout aus der Ukraine kaum
betroffenen USA.
Normalerweise sei das Geschlechterverhältnis in einer Region bei
der Geburt relativ konstant, erläuterte Scherb. Jede Veränderung sei
deshalb ein Indikator für physikalische oder chemische Belastungen.
Ionisierende Strahlung wirke bekanntlich genverändernd und könne auch
das Geschlechterverhältnis bei der Geburt beeinflussen. Insbesondere
in der Region Gorleben seien andere vorstellbare Ursachen als die
hochradioaktiven Abfälle nicht ersichtlich. Scherb: "Der Effekt ist
stark und spezifisch, die Beobachtungen sind konsistent, es bestehen
signifikante zeitliche und räumliche Zusammenhänge." Es sei deshalb
nicht nachvollziehbar, dass die Befunde bis heute weitgehend
ignoriert würden.
Prof. Karl Sperling vom Institut für Medizinische Genetik und
Humangenetik der Charité in Berlin sucht seit vielen Jahren in der
frühen Entwicklungsphase um die Befruchtung herum nach Erklärungen
für die Zunahme von Aneuploidien (Trisomie 21, Down Syndrom) und die
Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses unter radioaktiver
Niedrigstrahlung. Die zu diesem Zeitpunkt ohnehin fehleranfälligen
Entwicklungsprozesse, reagieren nach seiner Vorstellung auch extrem
empfindlich auf ionisierende Strahlung. Möglich sei beispielsweise,
dass es zu einem durch Strahlung ausgelösten Verlust oder Defekt
eines väterlichen X-Chromosoms komme, der in der Folge nur weibliche
Embryonen schädige und frühzeitig absterben lasse. "Derartige Abläufe
in der frühesten embryonalen Phase können die Tatsache, dass auch
unter sehr niedriger Strahlenbelastung weniger Mädchen geboren werden
als Jungen, prinzipiell erklären", sagte Sperling. Jedenfalls sei der
Zufall als Erklärung wegen der vielen übereinstimmenden Befunde
auszuschließen.
Für den Berliner Arzt und Epidemiologen Christoph Zink, sind
gescheiterte Schwangerschaften und vermehrte Fehlbildungen auch bei
nur niedriger zusätzlicher Strahlenbelastung ein Beweis für
"konzeptionelle Fehler in der heute weltweit üblichen Bewertung der
Risiken künstlicher Radioaktivität". Ein Grunddilemma der
Strahlenbiologie bestehe darin, dass Strahlenwirkungen durch
zusätzliche künstliche Radioaktivität kaum je unterscheidbar seien
von anders verursachten Störungen. Belegt werden könne ein solcher
Effekt nur statistisch und hier am ehesten bei einer sehr hohen
zusätzlichen Strahlenbelastung, etwa nach Nuklearkatastrophen, oder
bei besonders empfindlichen Organismen, zu denen ungeborene Kinder
gehören. Dazu passten die Befunde über die "verlorenen Mädchen".
Zink kritisierte, dass die zur Berechnung von Strahlendosen und
Grenzwerten verwendeten Modelle zahlreiche Erkenntnisse der modernen
Strahlenbiologie und die klinischen Erfahrungen seit Tschernobyl
nicht berücksichtigen. Er wies darauf hin, dass diese neueren
Entwicklungen seit 2010 in Empfehlungen des "Europäischen Komitees
für Strahlenrisiken" (ECRR) zusammengefasst vorliegen. Darin werde
unter anderem vorgeschlagen, künftig die unterschiedliche
Strahlensensibilität vor allem von Ungeborenen und Kindern bei der
Festlegung von Grenzwerten stärker zu berücksichtigen. Außerdem
sollten demnach in den Körper aufgenommene Strahler - je nach ihrer
anzunehmenden biologischen Wirksamkeit - stärker gewichtet werden als
bisher. Zink: "Das gesicherte Wissen der Strahlenbiologie ist weit
kleiner, als bisher geglaubt. Aber es ist längst groß genug, um viele
heute noch gültige Annahmen als falsch zu erkennen."
Christoph Zink war Chefredakteur des Medizin-Nachschlagewerks
"Pschyrembel", und veröffentlichte eine Reihe von Wörterbüchern zu
radiologischen Themen. In der aktuellen Ausgabe des von der DUH
herausgegebenen und neuerdings von der taz verlegten Umweltmagazins
zeo2 fasst er die wissenschaftlichen Ergebnisse zur
"Geschlechterlücke" unter radioaktiver Niedrigstrahlung zusammen.
Ausführliche Hintergrundinformationen finden Sie unter
http://www.duh.de/pressemitteilung.html?&tx_ttnews[tt_news]=2838
Pressekontakt:
Hagen Scherb, Institut für Biomathematik und Biometrie, Helmholtz
Zentrum München. scherb(at)helmholtz-muenchen.de;
http://www.helmholtz-muenchen.de/ibb/homepage/hagen.scherb/
Prof. Dr. Karl Sperling, Institut für Medizinische Genetik und
Humangenetik, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Tel.: 030
450566081, E-Mail: karl.sperling(at)charite.de
Dr. Christoph Zink,; Suarezstraße 4, 14057 Berlin; Tel.: 030 3245941;
E-Mail: christoph.zink(at)snafu.de
Dr. Gerd Rosenkranz, Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH), Hackescher
Markt 4, 10178 Berlin, Tel.: 030 2400867-0; Mobil: 0171 5660577;
E-Mail: rosenkranz(at)duh.de