(ots) - Europa hat keinen gemeinsamen Gründungsmythos wie
die Vereinigten Staaten von Amerika als das Land der Freien. Und auch
der Bundespräsident hat gestern nicht die neue Erzählung Europas, die
so viele in der aktuellen Stimmungskrise vermissen, liefern können.
Die gibt es nämlich nicht. Joachim Gauck wollte allerdings wohl, dass
diese erste bedeutende Rede seiner Präsidentschaft als große Rede
wahrgenommen wird. Dafür freilich war sie nicht mutig genug. Dann
hätte er nämlich Klartext reden müssen gegen die, die in der Politik
ganz gezielt mit antieuropäischen Ressentiments spielen, auch in
Deutschland. Oder aktuell Silvio Berlusconi, der mit Geldgeschenken
und Deutschlandfeindlichkeit gerade Wahlkampf macht. Von wegen
Einmischung in die Angelegenheit eines Staates. Der Ausgang der Wahl
in Italien kann die Stabilität des gesamten Euro-Raumes wieder
gefährden. Ein deutscher Präsident darf sich da behutsam einmischen.
Gerade dann gibt er ein Beispiel dafür, dass es inzwischen eine
gemeinsame Verantwortung auf dem Kontinent gibt, eine europäische
Innenpolitik. Gauck hat diese Chance vertan.
So hat das Volk wieder nur einen dieser europäischen Appelle
gehört, von denen zwar jedes Wort richtig ist, die aber die Herzen
nicht rühren. Ja, sagt der Präsident, es gibt eine tiefe
Vertrauenskrise. Und dann spricht er sich doch wie die meisten
Vertreter der politischen Klasse umstandslos für eine weitere
Vertiefung der EU aus. Dieser Gedankensprung bleibt für viele
Menschen zu abstrakt, zumal Gauck offen lässt, wie diese Vertiefung
aussehen soll. Wer um den Brei herumredet, wird keinen Appetit
erzeugen, weder so noch so.
Es bleibt dabei: Europa, dieses einzigartige Gebilde zwischen
Bundesstaat und Staatenbund, muss täglich in der Praxis wachsen. Das
fängt bei korrekten Lebensmitteln an, geht über die Bekämpfung von
Arbeitslosigkeit und hört beim stabilen Euro nicht auf. Das muss die
Leute überzeugen, sie stolz auf ihren Kontinent werden lassen. Beim
Reisen ist das ja schon gelungen, bei der Kultur zumeist auch. Europa
braucht Politiker, die bereit sind, diese mühsame Arbeit der
Gestaltung eines gemeinsamen Alltags auf sich zu nehmen. Ebenso wie
Bürger, die das auf ihren Ebenen tun, in den Schulen, im Sport, mit
Partnergemeinden. Das sind die wahren Schöpfer der europäischen
Erzählung. Eine Präsidentenrede kann ihre Arbeit nicht ersetzen,
sondern nur unterstützen. Das immerhin hat Gaucks Ansprache getan.
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