(ots) - Was können Lateinamerika und seine Kirche von
ihm erwarten? Was kann die Weltkirche erhoffen von einem Papst aus
Lateinamerika? Allzu optimistisch sollten die Katholiken nicht sein.
In Lateinamerika weht der gleiche Wind wie anderswo auch. Kirchen, in
deren ersten drei Reihen niemand unter fünfzig sitzt, während ab
Reihe vier alles leer ist - das gibt es längst auch in Lateinamerika.
Zwar sind noch viele Menschen katholisch - 42 Prozent aller 1,2
Milliarden Katholiken leben zwischen Mexiko und Feuerland -, aber sie
kümmern sich nicht mehr groß um die Doktrin. Der römische
Präservativbann löst genauso wie in Europa Kopfschütteln aus, die
Ehescheidungen werden als fast so normal angesehen wie die Heiraten.
Der Zölibat gilt als genauso skurrile Eigenart wie das Männermonopol
im Priesteramt, und die Missbrauchsskandale rufen in Lateinamerika
kein geringeres Entsetzen hervor als anderswo.
Wenn von religiöser Vitalität die Rede ist, denkt man in
Lateinamerika nicht an die Katholiken, sondern an den Vormarsch der
"Evangélicos", also etwa der evangelikalen und der Pfingstkirchen, zu
denen immer mehr Menschen übertreten. Im einst streng katholischen
Brasilien sind nicht einmal mehr zwei Drittel der Bevölkerung
katholisch - und daran soll die Weltkirche genesen? Es ist natürlich
naiv zu erwarten, dass ein "fortschrittlicher" Papst seine Kirche so
verändert, dass sie mit der heutigen modernen, weltlichen, durch und
durch materialistischen und tatsächlich weitgehend gottlosen
Gesellschaft in Einklang ist. Egal wie fortschrittlich oder
konservativ ein Papst ist, von zentralen Dogmen wird er nicht abgehen
können.
Aber warum muss die Kirche in Lateinamerika und anderswo so weit
entfernt sein von den Menschen? Warum schafft sie es nicht, den
Bedrängten, den Armen, den Verzweifelten näher zu kommen? Verlierer
des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells gibt es überall, in
Lateinamerika wie in Europa. Dass der neue Papst als Erzbischof in
die Slums gegangen ist, dass er U-Bahn fährt und sich nach seiner
Präsentation am Petersplatz zu seinen Kardinälen in den Omnibus
gesetzt hat - diese Art der bescheidenen Volkstümlichkeit ist erst
einmal kein schlechtes Zeichen.
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