(ots) - Was die vielberufenen europäischen Werte anbelangt,
ist die Sache klar: Wer Demonstranten zu Feinden erklärt und
Straßenprotest zum Übel, das mit schwerem Gerät beseitigt gehört, hat
nicht verstanden, wie Demokratien mit zivilem Widerstand umzugehen
haben. So unterschiedlich die EU-Regenten reagieren mögen, wenn bei
ihnen zu Hause die Straße unruhig wird - im Verständnis von den
Grenzen staatlicher Gewalt sind sie grundsätzlich einigermaßen einig.
Und so über Kreuz sie in der Frage der türkischen EU-Mitgliedschaft
sind - alle sind sich einig, dass der rabiate Premier Erdogan die
Aufnahmebedingungen nicht erfüllt. Die brasilianische Staatschefin
Roussef agiert beim Umgang mit Protest derzeit "europäischer" als der
zornige Mann am Bosporus, der Einlass begehrt in den Club der
Europäer. So ist es völlig richtig, dass die EU sich nicht darauf
beschränkt, Besorgnis zu artikulieren. Es wäre absurd, wenn man im
Rahmen des Beitrittsprozesses von den blutigen Ereignissen auf dem
Taksim-Platz keine Notiz nähme. Es wäre nicht nur dickfellig
gegenüber denen, die für "europäische" Verhältnisse ihre Gesundheit
riskieren. Es wäre zugleich ein erbärmliches Zeichen, dass man es mit
der Verpflichtung auf die gemeinsamen Werte nicht allzu genau nimmt,
wenn es hart auf hart kommt. Diesem Verdacht hat sich die EU leider
immer wieder ausgesetzt. Weder der bevorstehende Beitritt Kroatiens
noch die jetzt beschlossenen nächsten Schritte mit Serbien und dem
Kosovo sind in dieser Beziehung unverdächtig. Vor diesem Hintergrund
war es also angemessen, die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen
zu verschieben. Und es war klug, diesen Schritt der Regierung in
Ankara ausführlich zu kommunizieren. Die Parole "kein business as
usual" - nach Taksim kann es nicht einfach weitergehen - zielt
freilich am Sonderfall Türkei haarscharf vorbei. Mit Ankara ist es in
Sachen EU-Mitgliedschaft nie normal weitergegangen. Bis heute, fast
50 Jahre nach der Eröffnung der Beitrittsperspektive durch die
damalige EWG, hat sich die EU in diesem Punkte nicht ehrlich gemacht.
Die Verhandlungen werden eben nicht von allen EU-Staaten
"ergebnisoffen" geführt. Wohl wahr: Die Türkei muss mehr liefern. Die
EU aber auch.
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