(ots) - Die langjährigen Haftstrafen gegen mindestens zwölf
Journalisten im Rahmen des Ergenekon-Prozesses werfen ein Schlaglicht
auf die ungelösten Probleme der Türkei mit Pressefreiheit und
Rechtsstaatlichkeit. "Der Prozess hat einmal mehr gezeigt, wie nötig
grundlegende Justizreformen in der Türkei sind", sagte der
Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen, Michael Rediske.
"Überlange Untersuchungshaft, unklare Anschuldigungen und fragwürdige
Beweise kennzeichnen auch viele andere Verfahren gegen Journalisten,
die etwa wegen ihrer Arbeit für pro-kurdische Medien verfolgt
werden."
Als Beweismaterial in dem am Montag zu Ende gegangenen Prozess
dienten unter anderem illegal abgehörte Telefonate sowie Aussagen
anonymer Zeugen. Zwei der nun verurteilten Journalisten, Mustafa
Balbay und Tuncay Özkan, verbrachten während des Prozesses vier bzw.
fünf Jahre in Untersuchungshaft (http://bit.ly/13TbWre). Zwei Tage
vor der Urteilsverkündung wurden in Istanbul die Wohnungen mehrerer
Journalisten durchsucht, darunter Ilker Yücel und Osman Erbil von der
Zeitung Aydinlik sowie Mustafa Kaya und Mehmet Kivanc vom
nationalistischen Sender Ulusal Kanal. Die Staatsanwaltschaft
verdächtigte sie, zu Demonstrationen gegen den Ergenekon-Prozess
aufgerufen zu haben, die "die Verfassungsordnung gefährden" und die
Geschworenen bei der Urteilsfindung unter Druck setzen könnten.
Die juristische Aufarbeitung der Vorwürfe um den nationalistischen
Ergenekon-Geheimbund seit 2007 hat die türkische Öffentlichkeit
gespalten. Die Verfolgung hochrangiger Militärs und Beamter wurde
zunächst als Sieg als Sieg von Demokratie und Justiz über die
Vormachstellung der Armee gefeiert: Unter den nun Verurteilten sind
etwa der Anwalt Kemal Kerincsiz und der Nationalist Levent Temiz, die
den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink vor seiner Ermordung
2007 bedroht hatten. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die
Ergenekon-Ermittlungen aber mit immer neuen Verhaftungswellen zu
einer Generalabrechnung mit Oppositionellen und Regierungskritikern.
Verurteilt wurde nun unter anderem Mustafa Balbay, früherer
Kolumnist der Zeitung Cumhuriyet und Parlamentsabgeordneter der
Republikanischen Volkspartei CHP (http://bit.ly/X2lXuy). Er erhielt
34 Jahre und acht Monate Haft. Der ebenfalls politisch aktive frühere
Besitzer des Fernsehsenders Biz TV, Tuncay Özkan, wurde zu
lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Freilassung
verurteilt. Mehmet Haberal, Eigentümer des Senders Baskent TV,
erhielt eine Haftstrafe von zwölfeinhalb Jahren, die wegen der langen
Untersuchungshaft zur Bewährung ausgesetzt wird. Deniz Yildirim,
ehemals leitender Aydinlik-Redakteur, erhielt 16 Jahre und zehn
Monate Haft.
Der Aydinlik-Journalist Hikmet Cicek, der zugleich eine führende
Figur der Arbeiterpartei ist, wurde zu 21 Jahren und neun Monaten
Haft verurteilt. Der Journalist Vedat Yenener erhielt siebeneinhalb
Jahre Haft, ebenso der frühere Chef von Ulusal Kanal, Serhan Bolluk.
Dessen Nachfolger Adnan Türkkan bekam eine zehneinhalbjährige
Haftstrafe. Der Fernsehjournalist Turan Özlü erhielt neun Jahre Haft,
der frühere Kolumnist Güler Kömürcü Öztürk sieben Jahre und Ünal
Inanc vom Nachrichtenportal Aykiri Haber 19 Jahre und einen Monat.
Der Journalist Caner Taspinar ist einer der 21 Freigesprochenen in
dem Mammut-Prozess mit insgesamt 275 Angeklagten.
Unabhängig von den nun verhängten Urteilen geht der Prozess gegen
13 Angeklagte weiter, denen vorgeworfen wird, sie hätten durch Bücher
und Veröffentlichungen auf der Webseite des oppositionellen
Online-Fernsehens Oda TV das Ergenekon-Netzwerk unterstützt und
dessen juristische Verfolgung diskreditiert. Unter ihnen sind die
bekannten Investigativjournalisten Ahmet Sik und Nedim Sener. Sik
gehörte zu den Reportern des Magazins Nokta, die den
Ergenekon-Geheimbund aufdeckten und damit ihre strafrechtliche
Aufarbeitung erst ermöglichten. Sener machte sich einen Namen als
Enthüller von Korruptionsfällen, bevor er intensiv zum Mord an Hrant
Dink recherchierte. Die Vorwürfe gegen beide sind äußerst vage. In
ihren Verhören wurde deutlich, dass sich die Anschuldigungen der
Strafverfolger vor allem auf ihre journalistischen Recherchen zum
Ergenekon-Komplex stützen (http://bit.ly/x17GJJ).
Einen ausführlichen Bericht zum Verfahren gegen Ahmet Sik und
Nedim Sener finden Sie unter http://bit.ly/U6RPSW, allgemeine
Informationen zur Lage der Pressefreiheit in der Türkei unter
http://en.rsf.org/turkey.html.
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer
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