(ots) - Gut zweieinhalb Jahre nach Beginn des Aufstands in
Syrien sind in Teilen des Landes militante Islamisten zur größten
Gefahr für Journalisten geworden. In den Gebieten um die
nordsyrischen Städte Aleppo, Idlib und Al-Raqqa ist die Al-Qaida-nahe
Gruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS) für die
größte Zahl von Entführungen und anderen Übergriffen in den
vergangenen Monaten verantwortlich.
Reporter ohne Grenzen (ROG) veröffentlicht heute den Bericht
"Journalismus in Syrien - ein Ding der Unmöglichkeit?"
(http://bit.ly/1ate6LP) über die Bedrohungen für Journalisten und
Medien in dem Bürgerkriegsland. Er zeigt, wie systematische
Entführungen und ständig wechselnde Frontverläufe die journalistische
Arbeit dort inzwischen schwieriger machen als in Afghanistan oder
Libyen auf dem Höhepunkt der Gewalt. Insgesamt sind in Syrien seit
Beginn des Aufstands gegen Präsident Baschar al-Assad mindestens 110
Medienschaffende wegen ihrer Arbeit getötet worden, davon 81 Prozent
von der Armee des Regimes. Mindestens 67 Journalisten sich in der
Gewalt einer der Konfliktparteien oder werden vermisst.
"Besonders die immer häufigeren Entführungen machen die
journalistische Arbeit in vielen Teilen Syriens inzwischen zu einem
unkalkulierbaren Risiko", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr.
"Ohne die Arbeit von Journalisten vor Ort droht das Leid der Menschen
in dem Bürgerkriegsleid in Vergessenheit zu geraten. Alle
Konfliktparteien sollten endlich akzeptieren, dass die Syrer wie auch
die Weltöffentlichkeit ein Recht auf unabhängige Informationen
haben."
Der ROG-Bericht zeichnet nach, wie sich die Gewalt gegen
Journalisten im Laufe des Bürgerkriegs gewandelt hat. Bis Mitte 2012
ging der Großteil der Einschüchterungen und Festnahmen auf das Konto
der Regierung und regimetreuer Milizen. Indem sie Bürgerjournalisten
festnahmen oder bedrohten, wollten sie Berichte über die Proteste
gegen Assad und das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte
verhindern. Bis heute foltern und misshandeln sie systematisch
Journalisten. Ab der zweiten Jahreshälfte 2012 ging die Zahl der
Festnahmen zurück; stattdessen griff das Regime verstärkt zu
gezielten Tötungen.
Auch die Arbeit internationaler Berichterstatter behindert die
syrische Regierung vorsätzlich. Im Frühjahr 2012 kündigte das
Informationsministerium an, hart gegen illegal eingereiste
Journalisten vorzugehen. Zugleich vergibt die Regierung Visa nach
politischem Gutdünken und häufig nur nach langen Wartezeiten, weshalb
vielen Journalisten lediglich die illegale Einreise bleibt.
Seit dem Sommer 2012 gehen auch bewaffnete Oppositionsgruppen
immer häufiger gewaltsam gegen staatliche und regimenahe Medien vor.
Auch wenn das genaue Ausmaß dieser Gewalt aufgrund der unsicheren
Informationslage unklar ist, dürften bis heute rund 20 Journalisten
entführt oder getötet worden sein, die für regimefreundliche Medien
arbeiteten. Seit Ende 2012 drangsalieren und verfolgen militante
Islamisten Journalisten auch in den Gebieten Nordsyriens, die von
Rebellengruppen kontrolliert werden. In den Kurdengebieten im
Nordosten behindern nicht zuletzt die Sicherheitskräfte der dort
dominanten Partei der Demokratischen Union (PYD) eine unabhängige
Berichterstattung.
Besonders unberechenbar ist die Gewalt, die von Al-Qaida-nahen
Islamisten wie der Al-Nusra-Front und in jüngster Zeit vor allem ISIS
ausgeht. Letztere ist in den von ihr kontrollierten Gebieten um
Aleppo, Idlib und Al-Raqqa für die meisten Übergriffe gegen
Journalisten seit dem vergangenen Frühjahr verantwortlich. Völlig
unklar ist, welche Ziele sie mit ihren zahlreichen Entführungen
verfolgt.
Die meisten Opfer fordert der syrische Bürgerkrieg unter den
einheimischen Medienschaffenden: Mindestens 102 von ihnen sind seit
Beginn der Anti-Assad-Proteste im Frühjahr 2011 wegen ihrer
journalistischen Arbeit getötet worden, darunter 85
Bürgerjournalisten. Mehr als 200 syrische Medienschaffende wurden von
den Sicherheitskräften der Regierung verhaftet, mindestens 58 von
anderen bewaffneten Gruppen festgenommen oder entführt. Derzeit
werden mindestens 50 syrische Journalisten oder Bürgerjournalisten
von der einen oder der anderen Seite festgehalten oder gelten als
vermisst.
Daneben sind bis heute mindestens sieben ausländische Journalisten
in Syrien getötet worden. Mehr als 30 wurden von Regimekräften
festgenommen, mindestens 37 von anderen Konfliktparteien entführt
oder sind verschwunden. Derzeit sind nach Kenntnis von ROG noch
mindestens 17 von ihnen in Haft, entführt oder vermisst. Seit den
ersten derartigen Fällen im Juli 2012 haben sich die Entführungen in
jüngster Zeit so stark gehäuft und professionalisiert, dass
mittlerweile kaum noch ausländische Journalisten nach Syrien reisen.
Im vergangenen September riefen Online-Foren militanter Islamisten
offen dazu auf, alle Journalisten und insbesondere Ausländer als
vermeintliche westliche Spione gefangen zu nehmen.
(http://bbc.in/1fc5Kym)
Als Reaktion auf die Behinderungen der unabhängigen
Berichterstattung und die Propaganda staatlicher Medien haben viele
Syrer begonnen, als Bürgerjournalisten und Informationsaktivisten
selbst über die Ereignisse im Land zu berichten. Viele neu gegründete
Medien verstehen sich allerdings als Teil der Anti-Assad-Bewegung und
berichten weitgehend unkritisch über Opposition und Rebellen.
Journalisten, die sich um einen unabhängigen Standpunkt bemühen,
stoßen in dem aufgeheizten politischen Klima des Bürgerkriegs
vielerorts auf Unverständnis.
Auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit steht Syrien auf Platz
176 von 179 Ländern - noch schlimmer ist die Lage nur in
Turkmenistan, Nordkorea und Eritrea. Aktuelle Meldungen zur Situation
von Journalisten und Medien in Syrien finden Sie unter
http://en.rsf.org/syria.html.
Den ROG-Bericht "Journalismus in Syrien - ein Ding der
Unmöglichkeit?" können Sie unter http://bit.ly/1ate6LP herunterladen.
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Ulrike Gruska / Christoph Dreyer
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