(ots) - Martin Schulz gegen Jean-Claude Juncker:
Lediglich 1,8 Millionen Zuschauer wollten das erste deutsche TV-Duell
der Spitzenkandidaten für die Europawahl sehen. Über das Desinteresse
der Bürger darf man sich jedoch nicht wundern. So wird Juncker, der
Kandidat von CDU und CSU, in Deutschland nicht einmal auf Plakaten
beworben. Stattdessen setzt die Union auf das bekannte Konterfei der
Kanzlerin. In Frankreich ist es dasselbe. Dort gibt es nicht ein
einziges Duell im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Die Signale sind
deutlich: Die großen Mitgliedsstaaten wollen gar keine Europäisierung
des Wahlkampfes. Das Rennen um den Chefsessel der EU-Kommission
droht, zur Farce zu werden. Seit Beginn der Eurokrise steckt Europa
gleichzeitig in einer Vertrauenskrise. Das ist nicht neu und trägt
dennoch paradoxe Züge: Je mehr die Europäische Union dafür tut, um
die Krise einzudämmen und je erfolgreicher sie dabei ist, desto
weniger Vertrauen haben die Bürger in die Institutionen. Niemals
zuvor in der Geschichte der EU bewerteten so viele Europäer die
Mitgliedschaft ihres Heimatstaates in der Union negativ. Das beweisen
jüngste Umfragen. Dieses kollektive Misstrauen wird sich auch am
Wahltag widerspiegeln. Schon prophezeien Wahlforscher eine historisch
niedrige Beteiligung. Und während sich die europäischen Parteien
abstrampeln - schließlich haben Europas Spitzenpolitiker noch nie
einen so engagierten Wahlkampf geführt - droht das Misstrauen der
Bürger zu wachsen. Nämlich dann, wenn eintritt, was sich seit Wochen
abzeichnet: Entgegen dem Wählerglauben wird weder Schulz noch Juncker
Kommissionspräsident, am Ende zaubern die Mitgliedsstaaten einen
Kompromisskandidaten aus dem Hut. Das Signal an die Bürger wäre
fatal. Schließlich werben die Parteien seit Wochen dafür, dass der
Wähler mit seinem Kreuzchen über den neuen Chef der EU-Exekutive
mitentscheiden darf. Dumm nur, dass dies in Berlin, Paris und London
ganz anders gesehen wird. Tatsächlich lässt der Lissabon-Vertrag,
also die Verfassungsgrundlage der EU, viel Raum zur Interpretation.
Klar ist dabei eigentlich nur das Prozedere: Die Mitgliedsstaaten
schlagen einen Kandidaten vor, den das Parlament dann absegnen muss.
Äußerst schwammig ist hingegen die Formulierung, welcher Kandidat es
sein soll. "Im Lichte des Wahlergebnisses" solle dieser bestimmt
werden heißt es dazu in dem Vertrag. Für die Bundeskanzlerin ist die
Sache trotzdem klar. Es werde keinen Automatismus bei der
Postenvergabe geben, ließ sie unlängst verlauten. Dass die Sache in
Paris und London genauso gesehen wird, ist keine Ãœberraschung.
Dahinter steckt ein Machtkampf zwischen den Mitgliedsstaaten und dem
Europaparlament. Bislang ist es so, dass die EU nicht von Brüssel
aus, sondern in Wirklichkeit von den europäischen Hauptstädten
regiert wird. An dieser Tatsache rütteln nun die Volksvertreter mit
vereinten Kräften. Sie haben einander in die Hand versprochen, nur
einen der Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten zu wählen.
Dieser Machtkampf könnte die EU nach der Wahl blockieren und eine
Verfassungskrise zur Folge haben. Denn dass die eine oder andere
Seite einen Schritt auf den Gegner zumacht, ist unwahrscheinlich.
Schon sprechen Kommentatoren vom Bild zweier aufeinander zurasender
Züge, die niemand mehr stoppen kann. Der Vergleich passt. Rechtlich
gesehen sitzen die Staats- und Regierungschefs am längeren Hebel.
Sollte das Parlament das Gezerre verlieren, droht der EU ein weiterer
Ansehensverlust. Wähler lassen sich nicht gerne für dumm verkaufen.
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