(ots) - Stell' Dir vor, es ist Europawahl und alle
gehen hin: Eine schöne Vorstellung, die mit der Realität aber nichts
zu tun hat. Europawahlen sind und bleiben ziemlich exklusive
Veranstaltungen, weil sie exklusive des Gros der Wähler stattfinden.
Das ist höchst problematisch. In mehrfacher Hinsicht. Der Jubel in
Deutschland bei der SPD über das gute Wahlergebnis und das Zugpferd
Martin Schulz oder die Freude über das Plus bei der Wahlbeteiligung
täuschen darüber hinweg, dass die Europäische Union immer noch viel
zu wenig Akzeptanz bei den Wählern genießt - oder, noch schlimmer,
die Menschen ihrer überdrüssig geworden sind. Deutschland hat nicht
über Europa abgestimmt. Letztlich haben die Bürger hierzulande das
gewählt, was sie kennen: Schwarz-Rot. Dass dabei die CSU, die einen
Wahlkampf führte, in dem vieles erlaubt und wenig verboten war, herbe
Verluste hinnehmen muss, erklärt sich vielleicht am ehesten daraus,
dass die EU-Kritiker nicht zur Wahl gehen. Und wenn doch, wählen sie
die Populisten, nicht aber diejenigen, die am lautesten schreien in
der Hoffnung, dadurch die Populisten zu übertönen. Im Grunde aber war
dieser Europawahlkampf erstens kein Kampf unterschiedlicher
Positionen. Das hat nach dem vergangenen Wahlsommer auch keiner
wirklich ernsthaft erwarten können. Zweitens erlebten die Menschen in
Deutschland vor allem einen Abwehrkampf gegen Europa. Und hier liegt
das Problem: Wer in Straßburg und Brüssel mitregiert, aber landauf,
landab alles Unangenehme auf die EU schiebt, kann nicht erwarten,
dass die Wähler besonders viel Lust haben, ihr Kreuzchen zu machen.
Dieses beförderte Desinteresse an Europa aber hat nicht nur den
Erfolg populistischer Parteien ermöglicht, sondern erneut dazu
beigetragen, dass mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Europäer
lieber zu Hause geblieben sind, als ihre Stimme abzugeben. Eine
Wahlbeteiligung von weniger als 50 Prozent stellt der Europäischen
Union ein Armutszeugnis aus. Noch vor wenigen Monaten schockierte das
Flüchtlingsdrama vor Lampedusa die Öffentlichkeit. Knapp 400 Menschen
ertranken auf dem Weg nach Europa. Sie hatten alles hinter sich
gelassen, um hier ein neues Leben anzufangen. Sie waren bereit, dafür
zu sterben. In Kiew gingen die Menschen gegen eine Politik auf die
Straßen, die ihnen eine Annäherung an die Europäische Union
verweigerte. Sie demonstrierten, weil sie keine Zukunft in einem Land
sahen, das so nah und doch sofern der Ideen der EU war. Sie waren
bereit, ihr Leben zu opfern. Und wir Europäer? Wir überlegen zweimal,
das Haus zu verlassen, um unsere Stimme abzugeben. Die EU gilt weit
über ihre Grenzen hinaus als wirtschaftliche Supermacht, als
einmaliges und immer weiter gelingendes Experiment in Demokratie, als
Hort von Sicherheit und Freiheit. Wenn aber die Hälfte der Wähler
nicht bereit ist, der Europäischen Union, die ihnen all das
ermöglicht hat und garantiert, ihre Zustimmung zu erteilen: Welche
Legitimation hat sie dann noch? Russland hat schon länger erkannt,
dass die EU bei aller wirtschaftlichen Macht außenpolitisch schwach
ist. Kremlchef Putin nutzt das in der Ukraine-Krise zu seinem Vorteil
aus. Er tut das, indem er zumindest indirekt militärisch eingreift,
und indem er eine Hand am Gashahn hält. Auch in den USA gibt es
genügend Hardliner, denen eine zerstrittene und innenpolitisch
geschwächte EU ganz gelegen käme, weil Europa eben nicht nur Partner,
sondern auch Konkurrent ist. Die Krisen in Syrien und in Afrika
bräuchten eine starke, handlungsfähige EU, die in der Gewissheit
handeln kann, dies im Auftrag ihrer Bürger zu tun. Diesen klaren
Auftrag hat sie aber nicht. Sie ist somit angreifbar. Es gibt bei
dieser Wahl viele, die Niederlagen verdauen müssen. Sie sitzen in den
Parteizentralen von München, Berlin, Den Haag, London oder Paris. Es
sind nicht nur diejenigen, die Stimmen verloren haben. Jede Partei
muss sich fragen lassen, warum sie es nicht schafft, die Menschen
stärker für die europäische Idee zu begeistern. Der Verlierer dieser
Wahl heißt Europa.
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