(ots) - Das hatte sich Jean-Claude Juncker auch anders
vorgestellt. Der frisch gewählte Kommissionspräsident wollte noch vor
der Sommerpause damit beginnen, seine neue EU-Kommission
zusammenzustellen. Von jedem Mitgliedsland wünschte er sich drei
Personalvorschläge, darunter mindestens eine Frau. Solange die
Regierungschefs keinen neuen Außenbeauftragten ernannt haben, sind
aber alle anderen Entscheidungen blockiert. Die Ukraine steht kurz
vor dem Bürgerkrieg, im Gasstreit mit Russland ist keine Einigung in
Sicht und im Nahen Osten eskaliert der Konflikt wie seit Langem
nicht. Was aber tun die Europäer? Statt sich um die wichtigen Themen
zu kümmern und an einem Strang zu ziehen, schaut jeder nur darauf,
welches Pöstchen sein Land in Brüssel ergattern könnte. Das war nicht
immer so. 2008 einigten sich die Mitgliedsstaaten auf einen neuen
EU-Vertrag, der sich von dem Prinzip "Ein Land, ein Kommissar"
verabschieden wollte. Stattdessen sollte ein deutlich kleineres
Kollegium nach sachlichen Erwägungen gebildet werden. Nicht
berücksichtigte Länder sollten dann beim nächsten Mal zum Zuge
kommen. Statt sich an dieses vernünftige und auch Geld sparende
Prinzip zu halten, ist der Postenschacher schlimmer denn je. Italiens
Premier Renzi sieht sich als Sieger der Europawahl, beansprucht also
einen wichtigen Job für sein Land. Doch die Osteuropäer wollen seine
Außenministerin Federica Mogherini nicht als EU-Außenbeauftragte
akzeptieren, weil sie Sympathien für Russland gezeigt habe -
Putinversteher sind für die ehemaligen Sowjetstaaten, die so lange
unter dem Diktat Moskaus gelitten haben, ein Rotes Tuch. Gerne hätten
die östlichen EU-Mitglieder den polnischen Außenminister Radoslaw
Sikorski zum europäischen Chefdiplomaten gekürt, doch der ist
angeschlagen, seit er dabei belauscht wurde, wie er sich über den
amerikanischen Präsidenten lustig machte. Sowohl Mogherini als auch
Sikorski seien aus dem Rennen, war gestern in Brüssel zu hören. Nun
soll Ratspräsident Herman van Rompuy die Wochen bis Ende August dazu
nutzen, ein Gesamtpaket zu schnüren und dabei möglichst auch seine
eigene Nachfolge zu klären. Nicht nur Italiener und Osteuropäer
sollen zufrieden gestellt werden, sondern auch der beleidigte David
Cameron, der vergeblich gegen Jean-Claude Juncker als
Kommissionspräsident protestiert hatte. Diese Niederlage soll ihm mit
dem Binnenmarktressort versüßt werden. Im Vergleich dazu klingt
Angela Merkels Ansage schon fast bescheiden: Der derzeit für
Energiefragen zuständige CDU-Kommissar Günther Oettinger soll in
Brüssel bleiben und wieder ein wichtiges Wirtschaftsressort bekommen.
Jean-Claude Juncker kann sich vermutlich von seiner Idee
verabschieden, aus den besten Frauen und Männern eine effiziente neue
Verwaltung zusammenzustellen und dabei einen Frauenanteil von 40
Prozent zu erreichen. Stattdessen wird er sich von den
Regierungschefs vorschreiben lassen müssen, wer welches Ressort
bekommt. Das wird die aber nicht daran hindern, die Brüsseler
Verwaltung mit immer neuen Aufgaben zu betrauen und später ihre
schwache Arbeit zu kritisieren. Nur das Europaparlament, das die neue
EU-Kommission im Amt bestätigen muss, könnte hier noch die Notbremse
ziehen. Ende Oktober endet die Amtszeit der jetzigen
Barroso-Kommission. Und sein Nachfolger kann nicht mit der Arbeit
beginnen, sondern muss darauf warten, dass sich die aufs
Eigeninteresse fixierten Streithähne endlich einigen.
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