(ots) - Der neue Sultan der Türkei heißt Recep Tayyip
Erdogan. Nach seinem Wahltriumph steuert der künftige Präsident auf
eine Machtfülle zu, die es seit dem Osmanischen Reich nicht mehr
gegeben hat. Darüber jubeln jedoch nicht nur die Anhänger des starken
Mannes am Bosporus. Pikanterweise ist Erdogans Sieg auch für jene 70
Prozent der Bundesbürger ein Grund zum Feiern, die laut Umfragen
einen türkischen EU-Beitritt entschieden ablehnen. Denn mit dem
Erfolg des islamischen Staatschefs dürfte sich die Türkei noch weiter
von Europa entfernen. Die türkischen Wähler haben Erdogan belohnt für
die prosperierende Wirtschaft. Der seit einem Jahrzehnt währende
Aufschwung mit zeitweise märchenhaften Wachstumsraten ist gewiss ein
Verdienst des AKP-Chefs. Unter Erdogan ist eine wohlhabende
Mittelschicht entstanden, die wieder stolz auf ihr Land ist. Dass
Millionen Türken nach wie vor für Hungerlöhne und unter skandalösen
Arbeitsbedingungen schuften müssen, wurde bei dieser Wahl von der
Mehrheit ausgeblendet. Denn viele glauben weiter, dass Erdogans
Wohlstandsversprechen auch ihnen irgendwann zu einem sozialen
Aufstieg verhilft. Gleichzeitig haben sich die zahlreichen
Konservativen ganz bewusst für einen starken Führer entschieden, der
ihnen als Hüter der islamischen Ordnung gilt. Die Demonstranten vom
Gezi-Park stehen nicht für eine landesweite türkische
Bürgerrechtsbewegung. Sie sind der Ausdruck für eine tief gespaltene
Gesellschaft. Auf der einen Seite die Liberalen und eher weltlich
eingestellten Türken, die vor allem in Istanbul und einigen anderen
Großstädten leben. Auf der anderen Seite die streng Konservativen und
Religiösen auf dem Land. Die Präsidentenwahl war ein Votum für einen
autoritären Staat und gegen demokratische Freiheiten. Sie war ein
Ausdruck dafür, dass die Aussicht auf ein paar Lira mehr in der
Gelbörse der Mehrheit wichtiger ist als etwa die Zensur des
Internets. Ein Übriges dürften bei vielen unentschiedenen Wählern die
Kriege und Krisen in gleich drei Nachbarstaaten geleistet haben. Rund
um die Türkei donnern die Kanonen: in Syrien, im Irak und in der
Ostukraine. Angesichts dieser gefährlichen Brandherde wollten die
Türken keine politischen Experimente wagen. Mit Erdogans Wahlsieg
steht das Land vor einem Zeitenwechsel. In seiner Siegesrede hat er
von einer "neuen Türkei" gesprochen. Was genau er darunter versteht,
wird sich bald zeigen. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass der
Machtmensch Erdogan sich wie sein Vorgänger mit repräsentativen
Aufgaben begnügt. Immerhin kann er sich darauf berufen, dass er
direkt vom Volk gewählt wurde. Falls Erdogan an seinem alten Kurs
festhält, wird er dieses Mandat für einen radikalen Umbau des
politischen Systems nutzen. Er wird das Präsidentenamt so gestalten,
dass es ihm eine nahezu unbegrenzte Machtfülle garantiert. Und wenn
nicht auf Lebenszeit, dann - so hat Erdogan es selbst angekündigt -
mindestens bis 2023, wenn die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen
feiert. Dieses Datum ist auch insofern interessant, weil
Staatsgründer Kemal Atatürk damals Staat und Religion voneinander
trennte. Heute sieht es so aus, als ob Erdogan im Zuge seiner
schleichenden Islamisierung das Rad zurückdreht. Die Debatte über ein
Lachverbot für Frauen in der Öffentlichkeit oder die Diskussion über
"islamische Strände" in Ferienorten mögen im Westen nur ungläubiges
Kopfschütteln hervorrufen. Für die türkische Gesellschaft geben sie
aber sehr wohl die Richtung vor, wohin die Reise mit Erdogan gehen
soll. Mit dem neuen Sultan befindet sich das Land auf dem besten Weg
zur autoritären islamischen Republik - und weit weg von der EU.
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