(ots) - Die junge Generation trotzt gelassen negativen
Perspektiven - "Egotaktiker" nennt sie der Bildungsexperte Professor
Hurrelmann Sie lieben Smartphones und Internet, wollen gute
Schulabschlüsse, fragen ungeniert ihre Eltern um Rat - das ist die
Generation der heute 15- bis 30-Jährigen, die sogenannte Generation
Y. Die ungewisse Zukunft schockt sie nicht, der Bildungs- und
Jugendforscher Professor Dr. Klaus Hurrelmann sieht sie sogar als
"heimliche Revolutionäre", denn ihnen gelingt es, die Welt still und
leise zu verändern.
Der Fokus Ihrer aktuellen Forschung liegt im Bereich der jungen
Generation. Welche Rolle spielt die Jugend für die Entwicklung der
Gesellschaft? Prof. Dr. Klaus Hurrelmann: Sie bringt in jede
Gesellschaft immer das Neue, Aufbrechende, Innovative. Es ist
durchaus kritisch zu sehen, wenn die junge Generation in Bezug auf
ihre Bevölkerungsstärke eher klein ist, wie es bei uns in Deutschland
gerade der Fall ist.
Sie sehen die Generation Y als die heimlichen Revolutionäre? Was
hat sie denn revolutioniert? Hurrelmann: Hier muss man sich
anschauen, welche Erfahrungen sie mitbringen. Das Interessante an
Jugendforschung ist, dass man im Grunde in den Persönlichkeiten der
jungen Generation Geschichte, technische Entwicklungen, aber auch
Krisen gespiegelt sieht. Diese jungen Leute, die heute an der
Schwelle zum Beruf stehen, haben ihre Jugendzeit in den 2000er-Jahren
gehabt. In diese Zeit fielen eine Reihe von Krisensituationen: nine
eleven in New York, weitere Terroranschläge, Umweltkatastrophen bis
hin zu Fukushima und vor allem auch Wirtschafts- und Finanzkrisen.
Die jungen Leute haben sehr bald gemerkt, dass sie das ganz
persönlich, unmittelbar betrifft. Denn fast ein Drittel ist nicht in
den Ausbildungs- und Berufsmarkt hineingekommen. Das alles sind sehr
intensive Erfahrungen, die dieser Generation gezeigt haben: Sicher
ist gar nichts mehr, dennoch geht es weiter. Darauf haben sie sich
einstellen müssen. Deswegen haben sie diese Charakterzüge, die wir in
unserer Forschung herausgearbeitet haben: alles offen halten,
Abschlüsse optimieren, flexibel sein. Wir sprechen daher von der
"egotaktischen" Komponente im Verhalten dieser Generation.
Aktuelle Zahlen belegen diese Verhaltensweisen: die Zahl der
Schulabbrecher ist zurückgegangen, die Zahl der Abiturienten steigt.
Liegt's am Bewusstseinswandel oder am Bildungsangebot? Hurrelmann:
Beides spielt eine Rolle. Zum einen hat die Schulpolitik reagiert,
zum anderen fällt auf, dass die starke Fokussierung auf gute
Bildungsabschlüsse von den Eltern unterstützt wird, teilweise von den
Eltern angetrieben wird. Sie sind die wichtigsten Förderer, Trainer,
Karriere- ebenso wie Finanzberater. Das alles zusammen hat dazu
geführt, dass wir zum ersten Mal so viele Schulabgänger mit hohen
Abschlüssen haben wie noch nie.
Vor einigen Jahren waren die Mädchen auf der Überholspur der
Karriere-Autobahn. Haben die Jungen wieder an Strecke gewonnen?
Hurrelmann: Auf den zweiten Blick fällt auf: Die jungen Frauen haben
ganz besonders gepunktet. Die Jungen hingegen haben in puncto
Bildungsabschlüssen nichts an Boden gut gemacht. Zurzeit erobern
Frauen auch die ganz hochkarätigen Ausbildungsgänge. An den
medizinischen Hochschulen zum Beispiel sind 70 Prozent der
Studierenden weiblich, bei Jura liegt ihr Anteil bei etwa 65 Prozent.
Die Frauen sehen das als historische Chance, die Benachteiligung, die
sie noch von ihren eigenen Müttern kennen, nicht mehr hinzunehmen.
Damit wird das Thema Frauenquote bald überflüssig? Hurrelmann:
Gerade zu diesem Zeitpunkt halte ich die Frauenquote für sehr
hilfreich. Denn die strukturellen Angebote im Bildungs- und
Berufssystem spielen sehr wohl eine Rolle. Mit der Frauenquote kommt
ein Signal hinzu, das auch auf die etwas zurückhaltenden jungen
Frauen motivierend wirken kann, Karriere zu machen. Daher ist es
genau die richtige Zeit und die richtige Geste.
Einerseits sind gut 60 Prozent der Schüler strebsam, andererseits
sind die Jugendlichen trotz aller Horrorszenarien relativ relaxed.
Leben sie mit Scheuklappen auf den Augen? Hurrelmann: Die
Jugendlichen schätzen die Krisensituationen sehr nüchtern ein. Aber
sie glauben, dass sie, wenn sie sich geschickt verhalten, der Krise
entkommen können. In allen Erhebungen konnten wir diese pragmatische,
optimistische Grundhaltung bei den jungen Leuten beobachten. Und das
nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit fünf, sechs Jahren. Dieses
Phänomen hat etwas mit der bewussten Unterstützung durch das
Elternhaus zu tun, und zwar in einem Ausmaß, das es in dieser klaren
Form noch nie gab, zumindest nicht in der Nachkriegszeit. Die junge
Generation geht quasi mit ihrer Elterngeneration eine richtige
Allianz ein. Es findet keinerlei Ablehnung statt, sondern im
Gegenteil, man verbündet sich. Das Elternhaus ist quasi ihre
Rückversicherung für den Fall, dass doch etwas schiefgeht in dieser
ungewissen, offenen und sehr unstrukturierten Phase des Ãœbergangs von
der schulischen Ausbildung über Lehre oder Studium in den Beruf.
Die Revolution liegt also darin, dass man sich Elternrat einholt,
statt ihn zu verteufeln? Hurrelmann: Für die 68er wäre das undenkbar
gewesen. Sie legten Wert darauf, einen eigenen Weg zu gehen. Das
trifft auf die heutige Generation überhaupt nicht zu. Sie wirkt eher
angepasst, brav und sanft. Man muss sehr genau hinschauen, um zu
erkennen, dass sie still und leise faktischdoch einiges bewirkt hat.
Zum Beispiel sind aus den traditionellen Gymnasien
Dienstleistungsbetriebe geworden, die gute Schulkarrieren sichern.
Schulen allgemein sind heutzutage sehr demokratische Institutionen.
Was natürlich auch ein Verdienst der Lehrkräfte ist.
Auch in Sachen Komasaufen verzeichnen die Statistiker rückläufige
Zahlen, insbesondere bei den 10- bis 14-Jährigen. Lernt diese
Generation schneller aus ihren Fehlern? Oder sind "Trends" allgemein
kurzlebiger? Hurrelmann: Das Komasaufen ist ein ganz spannendes
Thema. Es steht symptomatisch dafür, dass das Aushalten der
Ungewissheit, das Überbrücken dieser nicht planbaren Lebensschritte
sehr viel Kraft kostet. Solche stressartigen Belastungen können sich
unter anderem in Exzessen ausdrücken. Man will sich von jetzt auf
gleich betäuben, wenn man mal heraus will, und innerhalb von einer
Viertelstunde das Gefühl haben möchte, diese ganze Belastung
loszuwerden. Allerdings kollidiert das mit der Erfahrung, dass man
fit, konzentriert und diszipliniert sein muss, um in dieser
Gesellschaft zu bestehen. Das haben etwa 60 Prozent dieserGruppe, die
Starken, gut Etablierten sehr schnell verinnerlicht. Sie suchen sich
lieber andere Dinge zur Entspannung und sind insofern in der Tat eine
sehr lernfähige junge Generation.
Die Bundesregierung treibt die Inklusion voran. Wie kann die
Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung gelingen?
Hurrelmann: Das ist eine enorme Herausforderung und wir müssen
aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen und überheben, wenn wir von
heute auf morgen alle Kinder mit irgendeiner Art von Beeinträchtigung
aus den - in Deutschland schon seit Jahrzehnten - etablierten
Förderschulen lösen und in die Regelschulen schicken. Das kann so
schnell nicht kompetent funktionieren. Das ist ein sehr langwieriger
Prozess. Daher empfehle ich die Umsetzung schrittweise vorzunehmen,
damit man die Erfahrungen, die man dabei sammelt, schnell einfließen
lassen kann. Ganz wichtig dabei ist, dass man die Kinder und ihre
Eltern dabei mitbestimmen lässt.
Trotz Wahl-O-Mat und Twitterei - die Parlamente überaltern. Warum
zieht es so wenig junge Leute in die Politik? Hurrelmann: Weil die
Politik für sie eine Organisationsform hat, die ihr fremd ist,
vielleicht sogar abstoßend auf sie wirkt. Sie stellen in der Tat nur
noch ein Prozent Parteimitglieder - vor 20 Jahren waren es etwa 3
Prozent - also ein sehr spürbarer Rückgang. Hier haben die Parteien
eine Bringeschuld, denn sie sind der wichtigste Transmissionsriemen
zwischen dem, was an Meinungen in der Bevölkerung kursiert, und dem,
was in die Parlamente befördert werden muss. Die Shell Jugendstudien
beobachten allerdings seit einiger Zeit, dass bei den Jüngeren das
Politikinteresse wieder zunimmt. Und auch hier tritt wieder ihr
egotaktischer Charakter zutage, denn sie gehen von sich ganz
persönlich aus, werden in ihrem Nahbereich - Freundeskreis, Schule,
Umweltgruppe - aktiv, häufig über soziale Netzwerke gesteuert, mit
denen sie schließlich groß geworden sind. Sie stehen quasi für einen
Aufbruch der Politik und warten darauf, dass von den Parteien ein
Zeichen kommt. Das Dramatische ist, dass die Partei Die Piraten, die
eigentlich diese neuen Themen und Techniken drauf hatte, es nicht
geschafft hat, die jungen Leute mitzunehmen. Sie ist unter sich
geblieben und hat diesen Transmissionsprozess nicht hinbekommen.
Kritiker haben die Dauervernetzung als fatal sowohl für Körper als
auch Seele gegeißelt. Wie sieht es tatsächlich aus? Hurrelmann: Hier
will ich den Blick auf die 40 Prozent werfen, über die wir bisher
noch nicht gesprochen haben, nämlich diejenigen, die nicht diese hohe
Bildung schaffen. Etwa die Hälfte davon ist richtig schlecht dran.
Und das sind auch genau die jungen Leute, die auch mit den Angeboten
der Medien nicht gut zurechtkommen, sich von ihnen überrollen lassen.
Diese Gruppe schafft es nicht, wie die große Mehrheit, sich die
Medien zunutze zu machen, sich die Welt mit ihnen zu erschließen,
sondern das sind diejenigen, die viel zu viel und viel zu passiv
konsumieren. Sie geraten in einen Strudel der Abhängigkeit hinein,
werden am Ende von den Medien beherrscht. Bis hin zu einer Gruppe von
5 Prozent, die man als süchtig bezeichnen muss, weil sie jede
Selbstkontrolle verloren haben.
Würde es sich angesichts des Fachkräftemangels nicht anbieten,
diese Leute "abzuholen"? Hurrelmann: Ja, auf jeden Fall. Es hat lange
gedauert, bis die Unternehmen aus der veränderten Marktsituation
gelernt haben. Noch vor drei, vier Jahren konnten sie aus dem Vollen
schöpfen, doch die Zeiten sind endgültig vorbei. Ich denke, die
ersten sozial engagierten Unternehmen haben ihre Konsequenzen gezogen
und fangen an, sich bewusst und gezielt um die etwas Schwächeren zu
kümmern. Das betrifft die etwa 20 Prozent der eben genannten 40
Prozent-Gruppe. Bei den letzten 20 Prozent hingegen merkt man
deutlich, dass wiederum vor allem die jungen Männer Sorgenkinder
sind. Sie sind demotiviert, haben schlechte Kompetenzen. Da muss eine
Firma schon kräftig investieren, um diese Leute ins Boot zu holen.
Wenn das aber gelingt, dann können hier richtige Talente entdeckt
werden. Unser duales Ausbildungssystem könnte das leisten, wenn die
Lehrkräfte eine entsprechende Zusatzqualifikation haben. Das dauert
natürlich alles länger, aber am Ende stehen Mitarbeiter, die dem
Betrieb besonders verbunden sind.
Ist die Ungewissheit in puncto Job und Einkommen nicht schon bald
überholt, wenn man an den immer häufiger angemahnten Fachkräftemangel
denkt? Hurrelmann: Wenn die Lage so bleibt, auf jeden Fall. Man darf
aber nicht vergessen, dass wir sozusagen eine Insel sind. Im Norden
läuft es noch ganz gut, aber schaut man nach Westen, Süden oder
Osten, dann trifft man auf Jugendliche, die immer noch sehr schlechte
Perspektiven haben. Ansonsten würde sich die Generation Y auflösen,
und die jungen Leute tatsächlich nur noch von der Wirtschaft umworben
werden. Das glauben die jungen Leute aber noch nicht, und man kann
sie eigentlich auch nur darin bestärken, vorsichtig zu sein. Wir
haben die Erfahrung in den Shell Jugendstudien gemacht, dass so etwa
fünf Jahre vergehen müssen, bis sich die Grundmentalitäten ändern.
Aber Sie haben Recht, dass die heutigen Chancen schon deutlich besser
sind. Das Interview führte Dietlinde Terjung
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