(ots) - Einen Fluss kann man zwar aufstauen. Solange
aber die Quelle sprudelt, wird man an der Staumauer keine stabilen
Verhältnisse schaffen. Jetzt, da die Metapher vom "Flüchtlingsstrom"
allgemeiner Sprachgebrauch geworden ist, lohnt es sich, sie einmal
auszubuchstabieren. Rückhaltebecken, ob man sie nun "Hotspots" oder
"Wartezonen" nennt, schaffen nur vorübergehend Entlastung. Man muss
kein Ingenieur sein, um das zu verstehen. Umso erstaunlicher ist es,
dass die Befürworter von Obergrenzen sich um diese simple Erkenntnis
seit Wochen öffentlich herumlügen können. Lässt Deutschland an seinen
Grenzen keine oder nur noch wenige Flüchtlinge herein, werden alle
Länder auf der Balkanroute bis hinunter nach Mazedonien die
Beschränkung in Echtzeit mitvollziehen. Organisatorisch ist das kein
Problem mehr. Schon seit Oktober fließt der Flüchtlingsstrom über den
Balkan durch ein begradigtes, tief ausgebaggertes Flussbett: Von den
ägäischen Inseln bis an den Inn werden Syrer, Iraker, Afghanen
gezählt, registriert, verlesen, kontrolliert, versorgt und mit Bussen
und Bahnen sicher und warm von Grenze zu Grenze befördert. Wer
ausbricht aus dem geordneten Zug, wird von der Polizei eingefangen
oder scheitert an einem der Zäune, die Mazedonier, Slowenen und
Österreicher rechts und links der kontrollierten Übergänge
aufgerichtet haben. Mit anderen Worten: Die Staumauer wird bei
Gevgeljia an der mazedonischen Grenze zu Griechenland stehen, nicht
bei Schärding am Inn. In den ersten Tagen nach der Grenzschließung
werden noch Tausende am Ãœbergang kampieren. Dann wird man sie mit
Bussen nach Athen oder Saloniki bringen, und neue werden nicht mehr
nachkommen. Dafür sorgt schon das Uno-Flüchtlingshilfswerk. Szenen
wie im August, als Flüchtlinge einen provisorischen Zaun
niedertrampelten und erregte Polizisten auf wehrlose Männer und
Frauen einschlugen, werden sich nicht wiederholen. Weder Österreich
noch Slowenien, Kroatien, Serbien oder Mazedonien werden also
"volllaufen", um im Bilde zu bleiben. Wohl aber Griechenland. Europas
Krisenstaat Nr. 1 wurde schon vor fünf Jahren mit seinen Flüchtlingen
nicht mehr fertig. Die Bereitschaft dort, Europas Probleme auf dem
eigenen Territorium zu lösen, geht inzwischen gegen null. An der
türkischen Küste besteigen auch im tiefsten Winter noch täglich um
die tausend Menschen Schlauchboote. Abdrängen lassen sie sich nur mit
bewaffneten Patrouillen auf See. Die Praxis ist der Grenzagentur
Frontex nach den Katastrophen vor Lampedusa ausdrücklich verboten.
Wird sie wieder aufgenommen und lässt Ankara sich das gefallen, läuft
eben die Türkei voll. Das autoritär regierte Land verfügt nicht
einmal über die Hälfte des deutschen Pro-Kopf-Einkommens, hat aber
pro Kopf doppelt so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Deutschland.
Mit ihrer Politik gegen die Kurden bringt die Türkei im syrischen
Bürgerkrieg die Quelle der Fluchtbewegung noch kräftiger zum
Sprudeln. Wer als Kind einmal mit Steinen einen Bach aufgestaut hat,
weiß: Wasser sucht sich seinen Weg. Über den Balkan führen noch
etliche andere Routen als die eine. Wer es über Albanien, Kosovo,
Bosnien versucht, trifft dort auf viele hilfsbereite Einheimische,
die dringend ein Geschäft suchen und fleißig Nebenkanäle graben
werden. Wenn dann wirklich überall hohe Zäune stehen, bleibt als
Alternative zum Flüchten nur noch das Sterben. Der Strom wird
versiegt sein. Wir können dann die Metaphorik wechseln und die
"Festung Europa" preisen. Strahlen wird sie eher nicht.
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